KUNST/MITTE Notes

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Kunst im Schneckentempo

23.07.2022, kompakt redaktion

Der Countdown zur KUNST/MITTE 2022 läuft. Vom 25. bis zum 28. August werden mehr als 160 Künstlerinnen und Künstler ihre Werke auf der Magdeburger Messe ausstellen. Um die Wartezeit zu verkürzen, stellen wir die Teilnehmenden in einzelnen Beiträgen vor. Zum Auftakt ein Heimspiel: Claudia Simon aus Magdeburg:

„Forever young“ – ewig jung – sprüht eine Omi in Jacke und Rock in pinker Farbe an eine Wand. In der linken Hand ihre Handtasche, in der rechten die Graffiti-Dose. „Das bin ich“, sagt Claudia Simon, zeigt auf das von ihr selbst erschaffene Kunstwerk und lacht. Heute kann die Magdeburgerin immerhin darüber lachen, dass sie sich an manchen Tagen wie eine Oma fühlt. Vor einigen Jahren war ihr dies noch nicht möglich. Ihre Mutter als Vorbild, wollte auch sie Kunstpädagogin werden – „einfach, weil Kunst mein Lebenselixier ist“. Also studierte sie in Leipzig und war anschließend als Kunstlehrerin an einem Gymnasium in Magdeburg tätig. 2014 erfüllte sie sich gemeinsam mit ihrem Freund den Wunsch von einem Urlaub auf den Seychellen, der mit einem ungeplanten Rückflug erster Klasse endete.

Auch darüber muss Claudia Simon lachen. „Obwohl es mir so elend ging, kann ich mich noch genau daran erinnern, wie es in der ersten Klasse ausgesehen hat.“ Diese Art zu Reisen war ihr lediglich aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Zustands vergönnt. „Ich hatte mir mehrere schwere Infektionen eingefangen und die hatten einen krassen Einschnitt in meinem Leben zur Folge“, schildert die 38-Jährige. „Während ich früher wie ein Flummi durch den Alltag gehüpft bin, ging plötzlich nichts mehr. Selbst meine liebe Omi war energiegeladener als ich – und das mit Anfang 30!“ Die Diagnose nach unzähligen Arztbesuchen und zwei Jahre anhaltender Tortour lautet: Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS), eine schwere neuroimmunologische Krankheit, die zu besonders schneller und langanhaltender Erschöpfung führt – mental wie körperlich, sodass ein normaler Alltag kaum noch möglich ist.

Dennoch arbeitete Claudia Simon nach ihrer Erkrankung weiter. „Ich habe mich jeden Tag zur Schule geschleppt und versucht, mich an den Wochenenden zu erholen. Bis schließlich gar nichts mehr ging, weil mein Immunsystem hinüber war und ich mir eine Krankheit nach der anderen eingefangen habe.“ Mit der Diagnose beginnt für die Magdeburgerin ein neues Leben – „eines im Schneckentempo“, wie sie selbst sagt. Doch zu akzeptieren, dass sie nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen und mit Familie und Freunden im Alltag mithalten kann, fiel ihr sehr schwer. Der Tiefpunkt war schließlich 2017 erreicht. „Aber das hatte auch etwas Gutes“, sagt die Magdeburgerin und schmunzelt. „Mir ist bewusst geworden, worauf es im Leben ankommt: auf die großartigen Menschen, die mich umgeben und die auch in solch schlimmen Situationen zu mir halten und mich akzeptieren, wie ich bin – eine Omi im Schneckentempo.“

Zudem bekam die Kunst eine neue Bedeutung für Claudia Simon. Obwohl Zeichnen während des Studiums nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählte, begann sie nach ihrer CFS-Diagnose wieder damit. „Zum einen konnte ich so meine Gefühle verarbeiten, zum anderen kann man dem immer und überall ohne großen Kraftaufwand nachgehen. Mich vor eine Staffelei zu stellen und zu malen, wäre damals undenkbar gewesen – und ist es noch immer“, sagt die 38-Jährige. Ebenfalls wunderbar in ihren Schneckentempo-Alltag integrieren ließ sich das Sticken. „Als ich damit angefangen habe, war ich überrascht, wie viel Spaß mir das macht. Sticken ist für mich fast eine Art von Meditation geworden.“ Alten Tischdecken haucht sie dabei neues Leben ein, bindet die Stile der 1950er und 1960er Jahre sowie Streetart und Pop Art in ihre Werke ein – lebendige Gesichter, auffällige Farben, markante Stickereien.

Doch nicht nur Stickereien entwirft die studierte Pädagogin beim Upcyceln. Auch Stencil Kunst (stencil – englisch für Schablone) entsteht in ihrem Stadtfelder Zuhause. „Damit habe ich eher zufällig angefangen, als ich 2019 vor einer Sporthalle in Stadtfeld ausrangierten Parkettboden entdeckte. Das Holz mit seinen aufgemalten Spielfeldbegrenzungen und den Abnutzungsspuren war perfekt, um etwas damit anzufangen“, schildert die Künstlerin. Sie zeichnet Motive, abstrahiert diese dann und fertigt für jede Schicht Schablonen an. „Das Ausschneiden ist zwar anstrengend, hat aber auch etwas meditatives.“ Vor allem, wenn es um Details geht – wie beispielsweise bei den Falten im Rock der Graffiti-Omi. Die Farbe wird schließlich mit Hilfe der Schablonen aufgetragen, dann muss die Farbe trocknen, bevor die nächste Schicht an der Reihe ist.

Sowohl die Stickereien wie auch die Stencil Kunst haben für Claudia Simon einen meditativen, entschleunigenden Effekt. Das Arbeiten an ihren Werken lädt zum Innehalten ein. „Beim Sticken kann ich die Langsamkeit zelebrieren und bei der Stencil Street Art kann ich die bunten Murmeln durch meinen Kopf rollen lassen.“ Und egal, was dabei entsteht – die Kunst hat ihr geholfen, mit ihrer Erkrankung, die häufig belächelt und missverstanden wird, umzugehen. „Die künstlerische Arbeit hat mir Mut gemacht und Kraft gegeben und wenn ich eines aus diesem Schlamassel gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass es immer anders kommt, als man denkt.“ (Tina Heinz)

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