KUNST/MITTE Notes

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Kunst statt Konsum – ihr spielt die Musik

22.11.2019, Annette Behr
Symphonic Mob beflügelt Berlin © Annette Behr

Letzter Sommer-Samstag im September. Der Kultur-Slogan „Deine Ohren werden Augen machen“ hatte mich statt zum Badesee in die Mall of Berlin gelotst. Faszinierend und lockend widersprüchlich: Das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) mit Chefdirigent (Robin Ticciati), Geiger (Christian Tetzlaff) und einem Chor (Rundfunkchor Berlin) geben zusammen mit Hobby-Musikern ein Konzert. Im Zentrum eines riesigen Shopping-Areals. Am Leipziger Platz, in der Mitte Berlins. Na ja gut. Warum nicht. Wieder einmal zeigt Berlin, dass es eben alles will und manchmal auch kann.

„Wir teilen die Musik und die Emotionen“, sagte Robin Ticciati, hier im Team © Annette Behr

Da passt selbst der etwas verwirrende Name „Symphonic Mob“.
Klingt gar nicht klassisch künstlerisch, eher etwas abfällig. Für „Mob“ steht der Tumult. Eine reizbare Volksmenge, denn eine elitär-musikalische Verschwörerbande an exzellenten Musikern. „Musik ist grenzenlos“, heißt es schnell. An diesem Tag überwältigt sie selbst den Konsumwahn. Dann wird die Mall zur Hall of Berlin.

Ein Fest für alle Musikliebenden. Sie wurden aufgerufen und eingeladen Musik zu spielen, zu hören, zu sehen und zu fühlen. In diesem Jahr fanden sich 1.300 Musikenthusiasten, das DSO, der Rundfunkchor Berlin, Christian Tetzlaff und Robin Ticciati zum 6. „Symphonie Mob“ in Berlin zusammen.

Symphonic Instrument © Annette Behr

Den Symphonic Mob, oder auch Berlins größtes Spontanorchester, trat erstmalig 2014 auf. Damals mit 400 Teilnehmern. Seitdem bietet er „allen, die ein Instrument spielen oder gern singen, die Chance, mit den Musiker*innen eines professionellen Klangkörpers zu musizieren – ganz gleich ob sie im Alltag in Laienorchestern oder Big Bands spielen, ob sie Blasmusik machen oder in einem lokalen Chor mitsingen.“ Jährlich finden diese Spontankonzerte auch in Lübeck, Coburg, Frankfurt, Hamburg, Bremerhaven und in der Metropole Berlin statt.

An einem Ort, an dem ansonsten ausschließlich dem Konsum gefrönt wird, klingt, singt, schwingt und weht plötzlich ein anderes Lüftchen. Gemischt mit Geräuschkulisse aus Menschen-Gebrabbel, Taschen- und Tüten-Gerenne von einem Laden in den nächsten. Plötzlich stolpern die Konsumentschlossenen über eine riesige Masse Mensch. Mit Instrumenten proben diese für ihren großen Auftritt am selben Tag.

Begeistert dirigiert Robin Ticciati © Annette Behr

Ausgebremst der Kaufdrang, bleiben viele Menschen stehen und verweilen bis zum Schluss. Hier werden die Sinne berührt: Das Brummen, Summen, Stimmen, Schwingen und Vibrieren hat etwas von einem emsigen Bienenschwarm. Begeistert dirigiert von Robin Ticciati im gelben T-Shirt. Ein Menschenfänger der mit seiner ansteckend-euphorisierenden Art fasziniert und beflügelt. Ticciati und Tetzlaff geben sich der Musik und den Menschen hin. Jede/jeder und die gemeinsame Sache zählt. Berührend ist das gemeinsame Musizieren mit hunderten Musikinstrumenten. Einmalig der zauberhafte Rausch der Musik. Nicht wiederholbar das Konzert an diesem Tag. Und, so Solist Tetzlaff: „Eine Form der Mitmenschlichkeit, die fantastisch ist.“

Unter den üblichen, klassischen Instrumenten eines Orchesters fanden sich auch Exoten wie: Akkordeon, Blockflöte, Gitarre, Saxophon und Xaphoon. Es wurden Werke von Verdi, Massenet und Dvořák einstudiert und dargeboten. Seit August gab es in den unterschiedlichen Berlin-Bezirken sogenannte „Pop-Up-Proben“. DSO-Mitglieder halfen beim Einstimmen, es fanden Chorproben statt und Noten gab es vorab online.

Christian Teztlaff filmt © Annette Behr

Jetzt staunten und schauten alle über das sensationelle Ergebnis. Nicht nur Christian Tetzlaff filmte. Viele Fotos und Videos wurden angefertigt, um das Ereignis zu konservieren. Dazu schien und wärmte die Sonne mit allerletzter Kraft vom Bundesrat über die Piazza und die dort versammelten Musizierenden.

„Wir teilen die Musik und die Emotionen“, sagte Robin Ticciati selbst sehr berührt über die Energie. Violinist Tetzlaff spielt zauberhaft und entrückend schön „Méditation“. Es ist Stille an diesem lauten Ort zu spüren. Manche haben Gänsehaut und Tränen in den Augen. Spätestens wenn der Chor den Triumphmarsch aus „Aida“, unterstützt von einem grandiosen Orchester, schmettert. Allein der Anblick der euphorisch spielenden Hobby- und Profimusiker lässt staunen.

Die tief berührende Musik, die jede Körperzelle durchdringt und auch sonst alles zum Schwingen bringt, ist kostenlos. Ein einmalig nachwirkendes Erlebnis von üppig emotionalem Überfluss.

Nicht nur Ohren machten Augen. Meine (und auch Ihre) Seele wird entzückt sein und vor Freude tanzen, wenn es auch 2020 wieder einen Symphonic Mob in Berlin und anderswo zu genießen gibt.

Mehr Infos: www.symphonic-mob.de

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