KUNST/MITTE Notes

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„Bewusstes Unvermögen“ – ein lebendiges Archiv in drei Akten

25.06.2019, Dorothea Hertel

Gabriele Stötzer ist heute für ihre grenzüberschreitende künstlerische Arbeitsweise seit den ausgehenden Siebzigerjahren bekannt. Richtig gewürdigt wird sie dafür erst seit etwa fünf Jahren. Es gab sogar das Bundesverdienstkreuz. Aber wie umfassend und bedeutsam Stötzers Arbeit und Zeitdokumente in der Tat sind, hat unlängst das Kuratorenteam der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig, Vera Lauf und Julia Schäfer, entdeckt und ein wirklich spannendes Konzept entwickelt.

„Bewusstes Unvermögen – das Archiv Stötzer“, zweite Eröffnung am 12. Juli in der GfZK Leipzig © Jana Noritsch

Am 8. März eröffnete hier der erste Teil der Ausstellung „Bewusstes Unvermögen – Das Archiv Stötzer“, am 12. Juli ab 19 Uhr sind dann alle Interessierten zum zweiten Akt eingeladen.

„Abwicklung“, 1983, Gabriele Stötzer und Heike Stephan, Ausstellungsansicht GfZK Leipzig © Jana Noritsch

Es ist ein begehbares Archiv, ein Ort zum Erkunden: Zeitzeugen in Farbe, Papier, Textil, Fotografie, Skizzen, Poesie, Zeichnung und Malerei. Untergrundkunst aus einem Staat, den es nicht mehr gibt. Dokumente des Überlebens im künstlerischen Kollektiv, aber auch als Einzelgängerin. Insbesondere in der Zeit nach ihrer Entlassung aus Hoheneck. Sie entschied sich für ein selbstständigeres Leben in der Halbillegalität und kündigte ihren Arbeitsplatz; offiziell verkaufte sie selbst gefertigte Pullover und im Untergrund beteiligte sie sich an Aktionen in Erfurt, Dresden und Berlin-Prenzlauer Berg. 1984 initiierte sie die einzige Künstlerinnengruppe der DDR: „exterra XX“.

„Der Schrei“, 1979, Öl auf Holz, Gabriele Stötzer, aus Sammlungsbesitz.
Ausstellungsansicht GfZK Leipzig © Jana Noritsch

Paula Gehrmann hat eine fantastische Rauminstallation für das Archiv Stötzer geschaffen: Ein System, das die einzelnen (Schaffens-) Punkte, Ecken, Strecken oder auch Parallelen im Raum miteinander verknüpft, einlädt, den eigenen Standpunkt, die Perspektive zu wechseln, sich zu setzen, zu blättern und – partizipativ – einzutauchen in einen ganzen Kosmos. Unvermittelt tauchen Fragen nach kollektivem Schaffen auch heute auf, modellieren sich Ideen von künstlerischen Interventionen – und all dies hinterfragt zugleich unsere kuratorische Praxis bzw. Sehgewohnheiten, unsere Erinnerungskultur und den Sinn von Archiven.

Gabriele Stötzer, Paula Gehrmann,
Ausstellungsansicht GfZK Leipzig © Jana Noritsch

Der jeweilige Fokus einer Ausstellungsphase nimmt Bezug auf die parallellaufenden Wechselausstellungen im Neubau der GfZK. Zur Doppelausstellungseröffnung im März lief ebenso „anarchive“ an. Ein gelungenes Wortspiel aus „Anarchie“ und „Archiv“: „Das klassische Archiv eröffnet die zentralen Fragen, wie Wissen über Kultur und Geschichte geordnet wird, wie Vergangenheit überliefert wird, was und wie überhaupt erzählt wird und welche Anstrengungen unternommen werden, um das Wissen zu bewahren und immer wieder neu festzuschreiben. Die Künstler*innen der Ausstellung machen diese Vorgänge sichtbar, sie nehmen sie zum Ausgangspunkt, um die Konventionen archivierender Praxis zu befragen und sie entwickeln andere Ideen von Archiven. […]“ Es werden alternative Erzähltechniken vorgestellt, nicht statisch, sondern eher dynamisch, ja offen, wobei Objekte in neuen Zusammenhängen lesbar gemacht werden und die Besucher eingeladen sind, selbst über Zuschreibungen nachzudenken.

Eröffnung am 8. März 2019 in der GfZK „Bewusstes Unvermögen – Das Archiv Stötzer“
© Jana Noritsch

Diese Haltung spiegelt sich auch im Stötzer-Archiv wider und verwebt so die Vergangenheit mit der Gegenwart. In meinen Augen ein sehr wichtiger Ansatz, um künstlerische Positionen und Ideen generationsübergreifend zu vermitteln. Ein Programm mit relevanten Podien oder Rundgängen bereichert den Umgang mit den Exponaten und bietet vielfach Möglichkeit, in einen direkten Austausch mit den Künstlern in der GfZK zu kommen. Der Titel „Bewusstes Unvermögen“, ein Zitat Stötzers, verweist auf die strategische Unterwanderung von gesellschaftlichen und künstlerischen Normen. Und das tut gut. Besonders heute. Denn zum einen wird Sammlern gesagt, sie dürfen nicht eklektisch sammeln und zum anderen wird Künstlern geraten, sich nicht mit Arbeiten aus verschiedenen Bereichen zu präsentieren. Zunehmend wird wieder der eine Strich, die eine Bildsprache gefordert. Wahrscheinlich um Ordnung in das völlig unübersichtliche ‚Angebot‘ zu bekommen. Gabriele Stötzer hat Performances gemacht, Künstlerbücher und Untergrund-Zeitschriften, Mode-Objekt-Shows, Super-8-Filme, fotografische Serien, Zeichnungen, Malerei, Collagen, Keramik, Literatur… Und lebt dies ungebrochen – vergangenen Sonntag sagte sie auf dem ersten Podium mit Ost- und Westkünstlern (!): „Es ist das Wichtigste, nie aufzuhören, nie unterzugehen!“

Vier Super-8-Filme von Gabriele Stötzer wurden 2018 auf der KUNST/MITTE (Presseinfo) gezeigt.

Weiterführende Lektüre / Links zur Information:
Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste in Osteuropa, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, eröffnet am 26.10.2019 im Dortmunder U: Performance-Art galt in den Ländern des ehemaligen Ostblocks als eine besonders subversive westliche Kunstform und stand daher im Fokus der Geheimdienste. Eingebettet in das mehrjährige Forschungsprojekt „Performance-Art in Eastern Europe: History and Theory (1950 – 1990)“ berücksichtigt sie die Akten aus ungarischen, tschechoslowakischen, polnischen, rumänischen und ostdeutschen Geheimdienstarchiven, u.a. mit G. Stötzer.
Ausstellungsrezension GfZK „DDR-Performance-Künstlerin Gabriele Stötzer: Der Mut, zu bleiben“ Freie Presse.
Von den Kunstfonds gefördert wird die Erstellung eines digitalen Werkverzeichnisses (Leipzig) von Gabriele Stötzer.
„Für Angst blieb keine Zeit“ Bundeszentrale für politische Bildung
„Zeit hinter Mauern“ Hoheneck Files  
„Texte von DDR-Autoren – Die Unerhörten“ SZ

Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig: Ausstellung
Bewusstes Unvermögen – Das Archiv Gabriele Stötzer“ 
bis 29. März 2020.
Geöffnet Dienstag bis Freitag 14 bis 19 Uhr, am Wochenende 12 bis 18 Uhr; mittwochs freier Eintritt. 
www.gfzk.de

Neubau der GfZK in Leipzig: Die Frontansicht lässt kaum erahnen, wie viel Raum dahinter geschaffen wurde © Jana Noritsch

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