Magdeburg vergisst oft seine Kinder. Es sei denn, aus dem Kind ist ein Ballspieler geworden. Nur kleiner als ein Handball oder größer als ein Fußball sollte das Leder nicht sein. Die Schöngeister, welche in die Welt ziehen, um Großes zu vollbringen, haben keinen Platz im kollektiven Gedächtnis der Städter. Manchmal jedoch geschieht etwas Wunderbares, Menschen erinnern sich und nicht genug, sie unternehmen etwas wider das Vergessen und holen wenigstens den Geist der verlorenen Töchter und Söhne zurück in die Stadt.
Stefan Wewerka! Stefan Wewerka? Ja, Stefan Wewerka. An ihn wurde sich erinnert, daraus wurde ein Projekt und mit Unterstützung der Stadt Magdeburg, 2014 dann das Wewerka Archiv. Auf Initiative des Forum Gestaltung e. V. und der Familie Stefan Wewerkas befindet sich das Archiv noch im Aufbau. Das Domizil: der Gebäudekomplex der ehemaligen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg.
Jetzt ist es möglich, einen Querschnitt von Wewerkas Schaffen in den Räumen des Forum Gestaltung e. V. zu erleben. Dafür braucht es Zeit. Viel Zeit. Zwei Stunden sind nicht genug, um der Ausstellung die Beachtung zu schenken, die sie verdient. Was kann ich darüber schreiben? Noch eine Analyse seines Werkes? Davon gibt es schon genug. Über wen soll ich schreiben, über Wewerka den Architekten, den Designer, den Fotografen, den Filmemacher, Modemacher oder lieber über den Grafiker, Maler, Bildhauer. Ich weiß es nicht. Sein komplexes, ideenreiches und sehr humorvolles Werk ist nicht in einer Kolumne abzuhandeln. Dies war mir klar, konnte ich doch schon vor längerer Zeit eine Wewerka-Ausstellung hier in Magdeburg erleben. Um diesmal nicht mit mir allein zu sein und auch noch die Gedanken einer bekennenden „Kunstbanausin“ mit den meinen in Dialog treten zu lassen, bat ich Marja mich zu begleiten. Ein anderer Blick eben, dachte ich. Mitnichten. Ähnelten sich unsere Gedanken doch sehr. Es begann mit der Fotoserie „Fallstudien“, sie zeigt eindrucksvoll umgesetzt das seitliche und das frontale Fallen eines Mannes in seine einzelnen Phasen aufgeschlüsselt. Intellektuell hervorragend umgesetzt. Emotional fiel uns sofort Novembertag ein. Das Wesen der Schwarz-Weiß-Fotografie unterstützte diese Emotion noch. Auch der humorvolle Geist, der sein gesamtes Werk durchzieht, wie sein Hang wider den rechten Winkel, hin zum Schrägen und Diagonalen ist klar zu erkennen.
Auf den Zeichnungen schien es so, als würden die Objekte aus einem Punkt gezogen oder umgekehrt. Der Attaché-Koffer, der kein Rechteck sondern als Parallelogramm die fehlende Aufrichtigkeit des Nutzers für jeden erkennbar machen könnte, wird sich aus diesem Grund nicht durchsetzen. Meine Lieblingsobjekte sind schon lange die Stuhlskulpturen. Zum Betrachten wunderbar, zum Sitzen nur bedingt geeignet. Gebogen einige, andere aus dem Winkel gezogen und geschoben. Beeindruckende Formensprache. Manche wirken wie abstrahierte Tierskulpturen. Meine Freude über den Einfallsreichtum und den Witz, der den Dingen innewohnt, ließ mich etwas nicht sehen. Meine Begleiterin, die Kunstbanausin, sah mehr: „Es lebt. Es wirkt so lebendig.“
So ist es. Dies ist, was meine tiefe Faszination an dem Werk ausmacht. Egal, ob es Fotos sind, welche auseinandergeschnitten und anders wieder zusammengesetzt wurden, die Siebdrucke, Zeichnungen von bekannten sakralen Gebäuden, die nach Wewerkas Vorstellungen dekonstruiert und in anderer Anordnung wieder zusammengesetzt wurden, die schwarz-weiß Fußbodengestaltung, die Kleidung mit der extragroßen Tasche, um auf Reisen die obligatorische Zeitung bequem verstauen zu können. Die vielen Dinge, die erst vernichtet wurden, um ihnen dann eine neue Gestalt zu geben. Alles ist mit Leben erfüllt. Destruktion, um Leben zu schenken… Und dann der Humor des Schalks, der jeder Idee innewohnt. Ikonisch die zersägten Fünfmarkstücke aus der DDR und der BRD, jeweils ein Teil aus Ost und West mit einem Silberscharnier an den Rundungen wieder zusammengefügt. Metapher auf die Einheit? Ein Scherz?
Wewerka dekonstruiert, verschiebt, schafft Anderes. Verbreitet Humor und macht nachdenklich. Surreales und Dada. Funktional, die Küche, alles, was benötigt wird, an einer Säule auch das Waschbecken. Zeitlos jedes Design.
„Die mit wunderbar feinsinnigem und tiefem, ironischem Geist versehenen Titel der einzelnen Werke machen den besonderen Reiz aus. Wewerka hat nicht um die Ecke gedacht. Er hat es um hunderte davon getan. Wie ein uranischer Geist, in Bewegung, aber nicht mit dem Strom, sondern dagegen, oder daneben vielleicht, aber nicht mit.“, resümiert Marja später.
Noch ein Bild. Es beschäftigt mich so sehr, dieses Gemälde. „Große Landschaft“ – Öl auf Leinwand von 1997, über welches Marja sagte: „Da ist dem Maler die Farbe ausgegangen.“ Was haben wir gelacht. Aber im Ernst, es wirkte wie die Zeichnung eines Vorschulkindes. Eines von den Werken, das wohlmeinende Eltern vor ihrem Spross über den Klee loben und mit einem lustigen Blumenmagneten an den Kühlschrank heften und einige Jahre und Fettflecken später sorgsam in eine Mappe zu all den anderen Werken des Kindes legen. So ein Bild sah ich. Öl? Ja? Aber es wirkte wie mit Filzstift gemalt. Ein brauner Krickelkrackelacker mit Krickelkrackelpflanzen. Hellblaue Krickelwolken mit langem, dickem Strichregen, der sogar die etwas dunklere Kante aufwies wie sie Filzstifte hinterlassen, wenn der Strich beendet ist, aber der Stift noch einen Augenblick zu lang das Papier berührt. Eine in kräftigem Orange gehaltene Kringelsonne in der rechten, oberen Ecke. Wie frei muss Wewerkas Geist gewesen sein? Ihm gelang es wieder, mit dem Herzen, der Genügsamkeit und der Fantasie eines Kindes zu schaffen. Jenseits aller Konventionen und Dogmen etwas zu schaffen, von dem ich sage: „Das kann ich nicht mehr! “
Es würde zu weit führen, alles aufzuzählen, was es zu entdecken gibt. Auch Wewerka und Bauhaus in den Kontext zubringen, mag ich nicht. Schauen Sie sich auch die Filme und Fotos besser selbst an. Zu komplex ist diese bemerkenswerte von Norbert Eisold (Kunsthistoriker) kuratierte Ausstellung, um sie würdig in einer Kolumne zu beschreiben. Zu gewaltig das Werk, um kurz in einer Publikation abgehandelt zu werden. Was ich vermag ist, an die Ausstellung zu erinnern. Eventuell hilft es, einen Sohn der Stadt bekannter zu machen. Möglich ist auch, dass all die Freunde und Förderer des Wewerka Archivs nicht erst in Vergessenheit geraten. Auch Norbert Pohlmann vom Forum Gestaltung e. V. gilt es, auf die Liste von Persönlichkeiten zu setzen, an welche die Menschen der Stadt sich erinnern sollten. Sein Wirken in Magdeburg hinterlässt immer wieder Spuren – und Wewerkas Geist eine Heimstatt in der Heimstadt zu geben, ist eine Spur mit beachtlicher Tiefe und Größe. Wer weiß, ob ohne seine beharrlichen Bemühungen um das Wewerka Archiv Marja je durch die wirklich schöne Pforte in das Gebäude zur Ausstellung getreten wäre.
StefanWewerka. deKONSTRUKTiondERmODERne
29. März – 14. Juli 2019
Forum Gestaltung Magdeburg
Brandenburger Straße 10
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