Auf dem Küchentisch liegen zwei Bildbände mit dem Lebenswerk des amerikanischen Künstlers Paul Harmon. Zu groß und zu schwer für ein Billy Regal. Zu umfangreich, um es während einer Weltumsegelung durchzublättern. Max Grimm und ich blätterten darin herum. Paul Harmon…. dieser Name galoppierte farbig blinkend wie eine Bordeltür durch die Woher-kenne-ich-diesen-Namen-Gedächtnisgasse. Die wundervollen farbigen Gemälde schienen mir auch bekannt. Stacy, eine Künstlerin aus Nashville, steht am Herd und kocht vegetarisches Chili.
Gefallen euch die Bilder? Paul hat heute Abend eine Vernissage. Ist ein Freund von mir. Wenn ihr möchtet, fahren wir dorthin.
Natürlich—gerne.
Es war eine umfangreiche Ausstellung. Circa dreißig großformatige Bilder in Öl und Sprühdose, selten in Acryl. Die Bilder schimmerten und waren von außergewöhnlicher Farbbrillanz, wie es Ölgemälden eigen ist. Da war noch mehr, etwas Unbeschreibliches in den Bildern, was durch die Verwendung von Sprühdosen hervorgerufen wird. Etwas, was dem Bild den Pinselstrich nahm. Überhaupt war auf den meisten Bildern keine Pinselführung zu erkennen. Das gibt den Bildern eine außergewöhnliche Aura. Leuchtende satte Farben, unterbrochene Linien, sich wiederholende Motive.
Der Künstler war nicht anwesend. Schade. Über das allgegenwärtige Exohirn, das Smartphone, erreichte Stacy den Künstler in seinem Atelier. 30 Minuten später befanden wir uns außerhalb von Nashville am Ende einer kurvenreichen Straße in der Brentwood-Landschaft. An einem historischen Haus, dem Alexander Smith House, um 1793 erbaut. Ein weißes Farmhaus, das hell erleucht durch nur einen einzelnen Scheinwerfer majestätisch vor der dunklen Silhouette des Waldes protzt. Aus der Zeit gefallen. Es wirkt auf mich wie eine Filmkulisse aus Vom Winde verweht. Hinter dem Wohnhaus des Künstlers befindet sich die ehemalige Räucherei, die den Kern von Harmons Studio bildet. Ein großer, entspannter, älterer Herr öffnet die schwere Holztür. Er lacht, scherzt, heißt uns gut gelaunt Wilkommen und bietet uns Bier an. In den hell erleuchteten Räumen wird die Außenwelt klein und Harmons Welt entfaltet sich.
Bilder, Skulpturen, Zeichnungen über mehrere Räume verteilt. Wild durcheinander, auch sortiert und archiviert. „Dieses Atelierlicht, das ist meine Welt“, sagt Harmon. „Wo dieses Licht nicht leuchtet, existiert die Welt einfach nicht mehr. Das hier ist mein heiliger Ort, an den ich gehe, um zu malen.“ Eine nächtliche Routine des international bekannten Künstlers regelt sein Schaffen und erwies sich als sehr nützlich. Harmon, 1939 in Brentwood geboren, hat sein ganzes Leben als Künstler verbracht, Auszeichnungen erhalten und seine Kunst an sorgfältig kuratierte Sammlungen verkauft. Seine Arbeit wird derzeit allein in den USA von einem Dutzend Galerien vertreten. Ja, Paul Harmon ist ein internationaler Künstler, der elf Jahre lang, von 1986 bis Anfang 1998, zwischen Ateliers und Residenzen in Paris und Brentwood, Tennessee, pendelte. Seine Arbeiten sind in zahlreichen Galerien, Museen, großen Firmen- und Privatsammlungen in Europa, Asien und den USA präsent. Die Sammlungen des State Museums, das Tampa Museum of Art, die George Bush Presidential Library and Museum, das Museum of the Principality of Monaco und die Stadt Caen in Frankreich besitzen Werke von ihm. 1981 repräsentierte der Künstler die USA auf der Biennale de Arte, Medellin, Kolumbien, SA. 1994 stellte Harmon auf Einladung der Stadt Caen dort seine Werke aus. Die von der Galerie Déprez-Bellorget, Paris, kuratierte Einzelausstellung war die offizielle Kunstausstellung zur Erinnerung an das 50-jährige Jubiläum des D-Day. Paul Harmon ist Träger vieler bedeutender internationaler Kunstpreise, darunter der Prix de la Ville de Monaco und der Prix de la Société E.J.A. beim XXIV. Prix International D’Art Contemporain de Monte-Carlo. Das Harmon-Gemälde Walking Man aus dieser Ausstellung wurde von Ihrer Hoheit, Prinzessin Caroline von Monaco, für ihre private Sammlung erstanden. Im Zusammenhang mit dem Prix de la Ville de Monaco erwarb das Fürstentum Monaco eine Leinwand für seine permanente Sammlung. Auch Hollywood entdeckte den Künstler für sich. In Filmen und Fernsehserien finden sich Werke von ihm.
Innere Stimmen und Grenzüberschreitungen sind Themen, denen er sich widmet, die er in seiner Kunst lebt.
Die Chronologie des Werkes sowie seiner verschiedenen Medien umfasst Ölbilder, Lithografien, Kratzbretter, Pastelle und bemalte Keramik. Als Harmon über sein Werk redete, erlebte ich Ambivalenz. „Einiges davon war überraschend gut und einiges davon war überraschend schlecht.“, sagt er, als wir am Kamin in einem gemütlichen Raum in seinem Studio auf Sofas und schweren Ohrensesseln lümmeln.
Auf einem Tisch stehen massive Tonvasen, auf denen er Muster in dicken schwarzen Linien malte. Er wechselt seine Medien und erlebt die unterschiedliche Energie: „Auch jetzt noch als alter Mann entdecke ich immer noch Dinge, es ist immer aufregend und belebend für mich.“
Die Wände verdecken seine Gemälde, die mit leuchtenden Farben erblühen. Primärfarben und Schwarz oder Violett die Linien, die alles zusammenhalten. Die Gemälde wiederholen seit Jahrzehnten einige Motive. Hasen, Vögel, Stühle, Frauenakte: „Ich wollte eine Handschrift entwickeln. Immer meinem Stil folgen, egal ob ich einen 57er Buick oder eine Sockelvase mit Früchten oder eine Odaliske male.“, sagt er. „Ich male mein Leben, die Dinge, die in meinem Leben passieren, existieren und ich will sie auf eine Weise malen, die meine reale kreative DNA enthält. Für mich ist dies das Wichtigste.“ Wie alle jungen Künstler beherrschte auch ihn der starke Wunsch, erfolgreich zu sein, bald jedoch malte er vorrangig für sich. Wieder wie ein Kind schaffen. „Kinder malen drauf los—mit den Fingern oder Pinseln. Formen Dinge aus Ton und haben einfach eine gute Zeit.“, sagt er. „Es ist nicht so einfach für einen Erwachsenen, Galerien und Preise und all diese hemmenden Einflüsse zu ignorieren und freudig wie ein Kind zu malen. Ich habe viele Jahre daran gearbeitet, und ich denke, ich bin dem sehr nah gekommen.“ Als junger Maler willst du erfolgreich sein, du willst gefallen. Dann wirst du ein alter Kerl wie ich und denkst daran, dass du dir selbst gefallen musst. Wenn ich mich nicht glücklich mache, wird es niemand sonst für mich tun. Ich habe meine Arbeit immer geliebt, aber jetzt bin ich freier als je zuvor.“ Er hat so recht.
Er malt immer wieder Vögel, Stühle, Fische, Kaninchen, Frauen. Was ist die Bedeutung dieser sich durch sein Lebenswerk ziehenden Motive für ihn?
Im Mittelalter konnten nur sehr wenige Menschen lesen, aber die meisten Menschen konnten Bilder lesen. Sie wussten um die Dinge in einem Gemälde, was es bedeutet. Der Hase—das ist eines der größten Symbole in der Kunst, wahrscheinlich das zweitgrößte nach dem Mond. Es ist also jedem Menschen möglich, meine Bilder zu interpretieren. Wenn du es willst, kannst du es auf viele verschiedene Arten interpretieren, da der Hahn in Deutschland eine andere Bedeutung hat als in Frankreich oder Japan. Ich male Ideen; Geschichten. Jeder, der will, kann sie lesen. Ich habe so viele Geschichten zu erzählen. Das ist zu sehen. Sein Werk ist enorm. Allein die Bilder in seinem Atelier reichen für das Schaffen aus drei Leben. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
„Ich habe einfach einen tollen Job“, sagt er.
Wir tranken Bier und er erzählte Anekdoten aus seinem Leben. Wir redeten nicht über Gott, aber die Welt und Frau Merkel. Er weiß Bescheid darüber, was in der Welt los ist. Aber schnell wechselten wir das Thema. Wir redeten wieder über Kunst und der Abend wurde wieder charmant.
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