Zum vierten Mal war es möglich, im Pumpenhaus, im Turmpark zu Salbke, Kunst mit den dafür bestimmten Sinnen zu erfahren. Der Eröffnungsabend, ein Treffen der bewegten Magdeburger. Sehen und gesehen werden, der Blick auf die Kojen von miteinander schwatzenden, Sekt schlürfenden Gästen versperrt. Der erste Eindruck: Alles so schön bunt hier. Das Buffet, welches portioniert und in großen zeitlichen Etappen kredenzt wurde, war während eines Augenaufschlags geplündert und den Gästen in der zweiten Reihe blieb nur ihr Spiegelbild im blanken Tablett.
Kunstgenuss kam bei mir nicht auf, zu viele Menschen, zu viele Bekannte, zu viele Plaudereien. Dabei immer wieder nett lächelnd mit einem Blick über die Schulter meines Gegenüber, um einen Blick in die Kojen der Künstler zu erhaschen. Das ist Jammern auf hohem Niveau. Solch ein Auftakt für eine Veranstaltung, deren Anliegen in der Präsentation, der Vermittlung und dem Handel von Kunst liegt, ist beachtlich. Gerade in Magdeburg.
An diesem Abend konnte ich dennoch meine Gier nach etwas Besonderem stillen. Allein, ungestört und beeindruckt sah ich mich in der Koje des Collectors Club Berlin um. Auch in den nächsten Tagen verweilte ich dort noch des öfteren. Bei den Arbeiten von Gabriele Stötzer war ein DDR-Gefühl präsent, wie ich es in den 80ern in mir mitschleppte. Ein kurzer Blick und es war da.
Es war auf den Bildern nichts zu sehen, was auf den alten Osten hinwies, doch war es da. Das Schwarzweiß der Fotos, der Inhalt, der Ausdruck, die gut getarnten Aussagen und die Freiheit, welche in der diktierten Einschränkung probiert wurde, war wieder da. Es wäre absurd, die Fotoarbeiten oder die Superachtfilme der Künstlerin zu beschreiben. Es geht um das Leben selbst, mit allen Facetten, mit Abgrund, Repression, Liebe, Tod, Freiheitsdrang und melancholischer Unbeschwertheit und Lebensfreude trotz allem und trotz DDR. Um diese Werke zu spüren, ist es nicht notwendig, um die DDR zu wissen. Das Werk ist zeitlos, aktuell und voller Emotion, mit Leidenschaft und mit Intellekt von Jana M. Noritsch kuratiert. In eine Kammer der Kathedrale meiner Erinnerungen wird das Foto Conny von mir eingewickelt gehängt. Es zeigt Cornelia Schleime, selbst erfolgreiche Künstlerin mit typischer DDR-Künstlerbiographie, der Kopf eingewickelt mit steifem, stabilem Industrie-Verpackungsband. Eingewickelt und fotografiert von Gabriele Stötzer. Beide im pseudosozialistischen Vaterland, weil unbequem, unverstanden und zu individuell, ausgebremst, gestoppt und markiert.
An der gegenüberliegenden Wand in der Galerie der Kathedrale meiner Erinnerungen hängt die Fotoserie Lippen aus der Reihe Carmen und Micro von Gabriele Stötzer. All das probierte und formte ich auch schon mit meinen Lippen. Auch das mit dem Gummiband. Jetzt weiß ich, wie es aussah. Nur die Lippen zum Kuss geformt ist auf keinem Foto zu entdecken.
Auch die Werke von Moseke, präsentiert vom Collectors Club Berlin. Ein künstlerisches Werk, vor dem sicher der Eine oder Andere stand und „Das kann ich auch.“ dachte. Mag sein. Mit satter Farbe in elfenbeinfarbiger, mit etwas indischgelb gemischter Ölfarbe einen breiten Pinselstrich auf ungrundierter grober Leinwand von oben zu ziehen, etwas unterhalb der Mitte zu stoppen, so dass die überschüssige Farbe eine schräge, dicke Wulst bildet und das Gleiche von unten nach oben zu tun, nur eine halbe Pinselbreite nach rechts versetzt, kann wirklich jeder. Was nicht jeder kann, ist solch eine Idee zu gebären, die Geduld aufzubringen, es so lange zu versuchen, bis die rechte Farbe, die Länge und Breite und Struktur der Pinselstriche sowie deren Position und Endpunkte gefunden sind, um die Sinne des Betrachters zum Schwingen zu bringen. Auch ist zu vermuten, dass der Das-kann-ich-auch-Betrachter nicht die Sensibilität aufbringt, um zu erkennen, wann das Werk vollendet ist, noch den intellektuellen Backround besitzt, vorher all diese Dinge zu kalkulieren, durch das Wissen darüber, was Farben, Formen und Strukturen mit unseren Gefühlen machen. Mir egal. Traktion, hell ist schon an die imaginäre Wand gehängt und in gebührendem Abstand auch die tief rote breite Linie von links nach rechts im unteren Drittel der Leinwand, etwas nach der Mitte in einer Farbwulst endend mit dem Titel gravierend wird mir noch eine Weile Freude bereiten.
Ja, die KUNST/MITTE. Ein geniales Rührei. Für jeden gibt es etwas zu entdecken, für den Sammler und Kunstkenner, den Bildungsbürger und auch die bastelnde Hausfrau. Wieder bieten über sechzig Künstler ihre Werke feil. Agata Schubert Hauck mit ihren kraftvollen, dynamisch mitreißenden Arbeiten, abstrakte und figürliche Darstellungen des weiblichen Körpers gehören schon dazu, zur KUNST/MITTE. Auch Hanna Sass stellte wieder aus. Ihre Radierungen, Holzschnitte und Lithografien—lebendig, abstrakt und wild wie eine Feuersbrunst, kraftvoll wie ein Herbststurm im Laubwald—locken mich immer wieder vor ihre Werke. Neu entdeckt, lange betrachtet und von mir nun sehr geschätzt: Die Kunst von Kaja El Attar. Werke, die auf mich wirken wie die, welche einst Miro der Welt bescherte und die doch so anders sind. Hoch interessant die Verwendung und das Einarbeiten von Farbcodes aus der Textilindustrie, wie etwa von Reißverschlüssen oder von elektronischen Bauteilen. Bestandteil einiger Bilder sind Widerstände. Verblüffend originell, lebendig sensible Formen. Von weitem sind Farbigkeit und liebliches Formenspiel, was mich zum Näherbetrachten verführte. Schwierig am Eröffnungsabend, besser am nächsten Tag. Nun hatte ich die nötige Muße und Ruhe, mich auf eine der interessantesten Arbeiten näher einzulassen. Was mag wohl in dieser Künstlerin vorgehen, deren Werk sich mir erst vollkommen erschloss, als ich eintauchte in dieses detailreiche Bilduniversum. Jede Linie, jeder Kringel ist tragend für das Ganze, die Farben, die Gravitation, die alles zusammenhält. Jede Linie offenbart zarte Verknüpfungen zur Künstlerinnenseele, welche ihre Phantasie auf einer endlosen Welle im Meer der Poesie reitet. Diese Bilder hängen erst einmal im Glockenturm meiner Kathedrale.
Ach ja,… Alf Ator stellte auch aus… Was haben wir gelacht. Großartig. Auch großartig—eine der Installationen von Thomas Prochnow im Wasserturm bleibt uns erhalten. Vielen Dank.
Ja, die KUNST/MITTE, ein wahres Füllhorn an Überraschungen.
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