KUNST/MITTE Notes

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Von wilden Umbruchzeiten und über Schubladen in unseren Köpfen

26.09.2019, Dorothea Hertel
Adolph Menzel „Hand des Künstlers mit Farbnapf“, 1864, Gouache und Aquarell auf mit schwarzer Tusche getöntem Vélinpapier © SMB, Kupferstichkabinett /
Jörg P. Anders

Wenn wir uns heute fragen: „Was passiert nur in dieser Welt? Wohin wird all das Neue führen? Wie können wir gegen die Ohnmacht den ökonomischen und politischen Größen gegenüber ankämpfen?“, hilft der Blick zurück auf ähnliche Zeiten. Da Geschichtsschreiber dies manchmal arg verfälscht haben, bleiben wir doch einfach kurz in der jüngsten Geschichte, den wilden Umbruchzeiten des ausgehenden neunzehnten, beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Die Droschken wurden durch Autos ersetzt, die Menschen zogen vom Land in die Städte und begannen, übermäßig in Fabriken zu arbeiten, neue technologische Entwicklungen veränderten die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben. Sogar so sehr, dass der politische Ausgleich versagte und der Erste Weltkrieg ausbrach, an dem letztlich 40 Staaten beteiligt waren. Es lohnt vielleicht einmal zu schauen, was damals gut lief oder falsch bei der Transformation, um daraus Schlüsse für Heute zu ziehen. Die Entwicklungsschritte seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bis zur heutigen globalisiert-digitalisierten Welt sind so enorm, dass man das wahrscheinlich nicht mehr nur als Wachstumsschmerzen bezeichnen kann, was wir gerade erleben: Monsanto versus Vier-Jahresplan, Rechner in Form von Smartphones statt Atari oder den Robotron Z1013 und – zum Glück – Fridays for Future für die Montagsdemos. In Bezug auf die Entwicklungssprünge gilt dies auch für den Kunstmarkt. Nie zuvor gab es so viel Kunst – bzw. Zugang zu eben dieser – wie heute: Messen, Galerien, öffentliche Museen, private Sammlungen und verschiedenste Plattformen im Internet.
Was könnte uns also das Werk eines Malers heute sagen, der vor über einhundert Jahren gelebt hat?

Im Berliner Kupferstichkabinett eröffnete am 19. September die Ausstellung „Menzel. Maler auf Papier“ – und Generaldirektor Eissenhauer sprach in seiner Eröffnungsrede von „einer zu Ende gehenden Ära, die zu Menzel’s Zeiten begonnen hat.“ Sämtliche Grenzen sprengend war nicht nur die Zeit, in der Adolph Menzel (1815–1905) lebte, sondern auch sein persönliches Wesen, seine malerische Obsessivität im geradezu brutal detailgetreuen Abbild der Welt.
Die Schublade: Maler großer Ölgemälde und Zeichner tausender, präziser Bleistiftarbeiten.

Und nun eine Ausstellung, die schon zur Eröffnung überrannt wird, unerwarteterweise. Lohnend, denn zu entdecken gibt es malerische, freiere, ja, fast ins Abstrakte reichende Bildwerke.

Der Ankauf des großformatigen Pastells „Schlittschuhläufer“ im vergangenen Jahr (für 325.000 Euro ersteigert; gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und erworben mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Rudolf-August Oetker-Stiftung) war Anlass und bildet den Mittelpunkt der Ausstellung. Eine der Kuratorinnen, Anna Marie Pfäfflin, beschreibt wie Menzel Luft und Licht, Wolken, Rauch, Hitze und Kälte durch lasierende Aquarellfarben und alles Fragmenthafte durch das trockene Pastell realisiert hat.

Adolph Menzel „Die Schlittschuhläufer“, 1855/1856, schwarze, weiße und farbige Kreiden,
fixiert, auf braunem Vélinpapier © SMB, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz

Seit den 1860er-Jahren verwendete Menzel Gouache und experimentierte virtuos mit Mischtechniken. Gouache ist eine pigmentierte, deckend auftrocknende Leimfarbe, die also den Malgrund abdeckt. Aquarellfarben sind ebenso Leimfarben, trocknen jedoch lasierend auf, das heißt, durchschimmernd. Wir sehen also den Tusche-/Kreide- oder Kohle-Strich noch, wenn wir eben diese Zeichnung aquarellieren. Dahingegen malen Pastellstifte direkt mit Pigmenten, sie besitzen keine Bindemittel, sondern die Farben haften unmittelbar auf dem Untergrund (Adhäsion). 

In seinen berühmten großformatigen Malereien findet man hingegen ob Menzels Akribie der Detailtreue selten Ruhe beim Betrachten: Die Protagonisten in den Menschenansammlungen beispielsweise haben auf emotionaler Ebene selten eine kompositorische Beziehung zu einander, jede/r steht quasi für sich allein, jedes Detail ist wichtig und bekommt seine individuelle Daseinsberechtigung. Irgendetwas zwischen Vereinzelung, Kollektiv und Chaos spricht aus Menzels Gemälden – es fehlt nur noch, dass alle ein Smartphone in der Hand haben: Jede/r war und ist mit sich selbst beschäftigt. Oder wie es der Kunstwissenschaftler Forster-Hahn formulierte, zeige diese Malweise die „Unmöglichkeit, die Welt als harmonische Einheit zu erfassen“ (1980).

Gerade weil zu viel Realismus schmerzhaft sein kann, ist diese Ausstellung eine Empfehlung, sofern die Erweiterung eines festgefahrenen Bildes gewünscht ist: Im Ergebnis zeigt die Schau revelatorische Werke, die viel Zeitgenössisches in ihren Sujets haben – und die Schublade ‚Menzel‘ zumindest um einige Kategorien erweitert und von einer gewissen Enge befreit. Es wird deutlich, dass auch der professionelle, einflussreiche Künstler Adolph Menzel andere – menschlich-freiere, poetisch-malerische – Seiten hatte. (Und als Dossier-Kennerin von künstlerischen Œu­v­res und Sammlungen frage ich mich in einzelnen Fällen (Skizzen, Farbstudien) schon, ob der Perfektionist Menzel derer Veröffentlichung nicht widersprochen hätte?)  

Kupferstichkabinett
Staatliche Museen zu Berlin
Kulturforum (Potsdamer Platz)
„Menzel. Maler auf Papier“ bis 19. Januar 2020
Di-Fr 10-18, Sa-So 11-18 Uhr
www.smb.museum/kk

*Zusatz zum Bilderpaar: „Bei den szenischen Darstellungen ist mit dem seit 1907 in der Sammlung befindlichen Bilderpaar „Herr“ und „Dame im Coupé“ (1859) eine besondere Sensation zu entdecken: Die als Folge des Zweiten Weltkrieges verlorene „Dame“ konnte im Januar 2019 nach Jahrzehnten des unbekannten Verbleibs wieder für die Sammlung des Kupferstichkabinetts zurückgewonnen werden. Das von Menzel mit Sinn für menschliche Entgleisungen beobachtete, im Umgang miteinander so abweisende Paar, ist nun erstmals seit über 70 Jahren wieder vereint.“ (Pressetext Kupferstichkabinett)

Blick vom Kupferstichkabinett/Kulturforum auf den Potsdamer Platz, rechts liegt der Tiergarten, wo Adolph Menzel die letzten 30 Jahre wohnte (Sigismundstr. 3) © Jana Noritsch

Beitrag: Jana M. Noritsch, DAS PRINZIP KUNST

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