Hiddensee – eine Auszeit aus dem Alltag. Wasser,
Wellen, Wind – Wetter und sich treiben lassen. Angespült vom Fährkahn und das
Hab und Gut zum Bungalow gekarrt. Dort alles fallen lassen – die Hüllen auch
und rein ins legere Urlaubsoutfit. Damit an den Strand.
Wer dies am 10. Juli dieses Jahres tat, konnte am Strand von Vitte mit einem
Mal Wundersames bestaunen und selbst Teil davon sein. Die Tänzer*innen der
Palucca Hochschule für Tanz (Dresden) hatten unter dem Motto
»Perspektivwechsel« zum Tanz geladen.
In der Mitte drei Musiker*innen – Alina Gropper an der Quintone, Conny Laxell an den Percussions und Drums und Sascha Mock an den Drums und an der Cigar-Box-Gitarre. Drum herum das Tanzensemble aus elf Tänzer*innen, angeleitet durch die künstlerische Leitung von Professorin Jenny Coogan.
Noch im Sand sitzend: das Publikum. Jenny Coogan lud die Badegäste ein, mitzumachen, die Körper zu lockern und sich einzulassen auf den Tanz. Zunächst noch etwas zaghaft, doch gespannt auf das, was gleich passieren möge, erhoben sich die Zuschauer*innen, klopften den Sand vom Po und ließen sich auf das Unterfangen ein.
Langsam baute sich der Tanz auf. Erst tanzten Tänzer*innen und das Publikum, jede*r nur für sich, lockerten unter Anleitung, durch Abschauen und In-sich-hinein-horchen alle Glieder, nahmen nach und nach ihre Körper als Ganzes wahr. Schließlich begegneten sich immer zwei Personen im Tanz, reagierten auf die Bewegung des Gegenübers. Sie nahmen sich selbst durch die Reaktion des Gegenübers wahr. Fließende Bewegungen und ruckartiges Verharren, lösen, weiterfließen. Die Bewegungen an den Strand gemalt, begleitet vom Rauschen der Wellen und der Musik der kleinen Combo. Die Gruppen, die zusammen tanzten, wurden größer. Und auch hier reagierten die Tänzer*innen aufeinander, nahmen die Bewegungen und Geräusche der anderen auf. Schließlich tanzten alle zusammen – ein buntes, wogendes Farbenmeer zum Rauschen der Wellen und den Trommeln und Saitenklängen der Musiker*innen. Und dann – nach einer Stunde verstummte die Musik. Kurzes Verharren und Auslaufen-lassen der Bewegung. Anschließend gegenseitiges Beklatschen und gelöstes In-die-Arme-fallen. Ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Davonschweben in den Nachmittag.
Wer von dieser Erfahrung berauscht in den weiteren Tag hineinwogte, konnte sich auf eine nächste Tanzperformance am Nachmittag freuen oder schwang sich am darauffolgenden Tag aufs Rad und fuhr damit bis zur Wiese gegenüber der Heiderose – zwischen Vitte und Neuendorf.
Das Publikum formierte sich um den gemähten Kreis der Wiese – den Blick zur Mitte. Das abgemähte Gras lag locker und trocken obenauf. Auf einmal erschienen hinter dem Kreis zwischen den Bäumen und hinter einem riesigen Busch rot gekleidete Gestalten, eine weiße Maske mit ausgespartem Mund und Augen. Vorsichtiges Hervorspähen, Wahrnehmen der Umgebung, der Anderen, des eigenen ICH. Langsames Vorwagen, erst hinter den Kreis, dann in den Kreis hinein. Vermessen des Kreises. Bezugnehmen zueinander – sich aufeinander und zueinander beziehen. Die Anziehung zweier Tänzer*innen: Sie kommen sich näher, reagieren auf die Bewegung des*r anderen. Der Körper folgt der Hand, ahmt die Bewegung nach. Vertrauen baut sich auf. Braucht es die Maske noch? Fragen, fordern, frei sehen wollen. Gegenseitig wird sich der Maske entledigt. Die anderen Tänzer*innen nehmen dies wahr. Schauen sich um. Wie sollen sie reagieren? Den Schutz der Maske aufgeben? Wieder nähern sich zwei Tänzer*innen, begegnen sich. Schauen sich an, schauen weg. Die Hand an der Maske, die Finger in den Augenhöhlen. Es wäre so einfach, die Maske abzuziehen. Doch was dann? Was eröffnet sich? Was eröffnet sich dem Gegenüber? Die Uniformität aufgeben für was? Was sich ermöglichen? Wer macht sich verwundbar? Wie werden die anderen einen wahrnehmen, wie die Person sich selbst?
Die Maske ist ab, doch als Fratze wird sie hochgehoben, den anderen als Spiegel vorgehalten.
Es wagen sich weitere Tänzer*innen – das Gesicht noch von der weißen Maske bedeckt – hervor. Eine*r ist mutig, zerrt schon an der eigenen Maske. Doch ein*e andere*r kommt herbei, rückt die Maske gerade, warnt und beschwichtigend. Eine weitere Person lenkt ab, reißt die eigene Maske vom Kopf. Die*der zweite Tänzer*in ist verwirrt, rennt hinüber, will die Maske der Person wieder aufsetzen. Ein Gerangel um Mut, Chancen, Gesicht-verlieren, Sich-selbst-finden entbrennt. Schließlich schauen sich alle drei an – ohne Masken und erkennen ihre jeweilige Individualität.
So geht das Spiel weiter. In Grüppchen oder als Tanzgemeinschaft reagieren die Tänzer*innen auf die Impulse, die die Musiker*innen ihnen vorgeben, reagieren auf ihre Mittänzer*innen und improvisieren daraufhin, indem sie in sich hineinhorchen. Für das Publikum ein lustvolles, intensives Erlebnis, das noch lange verhaftet und im jeweils eigenen Kopf weiter getanzt und gedacht wird.
Auch an den beiden darauffolgenden Tagen konnten die Tages- und Dauergäste Hiddensees die Tänzer*innen der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden an unterschiedlichen Plätzen auf dieser kunstreichen Insel bestaunen und sich von der szenischen Tanzimprovisation inspirieren lassen, das Gesehene in sich aufsaugen und beim anschließenden In-der-Sonne-aalen oder dem herzhaften Biss ins Fischbrötchen und dem Schluck Wein im Sonnenuntergang über SIE-DU-ICH philosophieren. Und so kommen sie schließlich durch die Begegnung mit dem Anderen zu sich selbst. Am Strand von Hiddensee.
Alle Fotos: © Kiraton
Palucca Hochschule für Tanz Dresden
Veranstaltungen 2019
>>> Tanzwoche Hiddensee: 08.07. – 13.07.2019
>>> Tanzwoche Sylt: 15.07. – 20.07.2019
>>> Tag der offenen Tür: 05.10.2019, 10 bis 15 Uhr
>>> Palucca Tanz Studio: 15., 16., 22. und 23.11.2019, jeweils 19 Uhr
Veranstaltungen 2020
>>> Öffentliche Aufführung der Bachelorarbeiten: 12. und 13.06.2020
>>> Matinée in der Semperoper: 12.07.2020, 16 Uhr
>>> Tanzwoche Hiddensee: 19.07. – 24.07.2020
>>> Tanzwoche Sylt: 26.07. – 01.08.2020
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