Aurora. Ein Vorort von Denver, Colorado in den USA. Ich sitze mit Cassandra auf dem Boden. Vor uns ein riesiges, leeres, weißes Blatt Papier. Wir haben unsere Sketchbooks auf dem Schoß und skibbeln eine erste Idee hinein. Gemeinsam wollen wir ein Bild malen – es soll um Frauen gehen, Visionen, Feminismus. Im Hintergrund läuft eine Musikplaylist auf dem Smartphone. Der Radiator summt dazu leise an einem kalten Tag im Mai. Am Abend wird es noch schneien.
Ich lernte Cassandra – Cassandra Dixon, wie sie mit vollem Namen heißt, über Instagram kennen. Es ist einer dieser Tage – ich scrolle durch meinen Instagram-Feed, plötzlich bleibe ich bei den Fotografien von Rebecca Tillett hängen. Mystische Landschaftsaufnahmen und Porträts von starken Frauen. Diese sind zumeist nur wenig bekleidet und doch strahlen die Modells auf den Aufnahmen so viel Selbstbewusstsein und Power aus. Eine der Abgebildeten ist ihre Cousine Cassandra Dixon, die selbst auch als Künstlerin tätig ist. Ich klicke mich rüber in ihren Insta-Feed, bin sofort begeistert und zugleich tief berührt von ihren hier gezeigten Aufnahmen ihrer Arbeiten, die sich mit Fotografien aus ihrem Alltag abwechseln. In vielen ihrer Malereien, manchmal auch Skulpturen oder Performances, verarbeitet sie ihre Vergewaltigung als Teenager durch vermeintliche Freunde. Ich klicke auf »folgen« und in unregelmäßigen Abständen sehe ich nun Updates von ihr in meinem Instagram-Feed. Manchmal kommentiere ich. Ich schreibe einen kleinen Artikel auf meinem Blog über die beiden Künstlerinnen. Dadurch entsteht ein loser Kontakt über den großen Teich. Das war 2014.
Wir zeigen uns gegenseitig unsere – auf Papier gebrachten – Gedanken und kommentieren und überlegen gemeinsam, wie wir die jeweiligen Ideen miteinander verbinden – verschmelzen – können. Mit Bleistift übertragen wir die daraus erwachsene Idee auf den großen Papierbogen. Ich beginne mit dem Kopf, Cassandra mit einem der Augen. Die Linien gleiten auf dem Papier, ohne, dass wir uns groß darüber verständigen müssen, wie wir diese setzen.
2016 postet Cassandra, dass sie im Rahmen ihres Studiums einen Artist Residency-Aufenthalt in Hilmsen, Deutschland hat. Da der Ort in der Altmark und somit nicht weit von Magdeburg entfernt ist, schrieb ich sie einfach an, ob wir uns nicht während ihres Aufenthalts treffen wollen und lud sie für ein Wochenende nach Magdeburg ein. Sie sagte Ja und so kam es, dass sie mich Anfang September 2016 in Magdeburg besuchte. Ich nahm sie mit zum Ernte Funk-Fest in Buckau, wo ich einen kleinen Stempel- & Street-Print-Workshop gab. Wir besuchten auch die Kunst/Mitte, die am gleichen Wochenende stattfand. Natürlich durfte auch ein obligatorisches Foto vor dem Dom nicht fehlen.
Von diesem Wochenende an blieben wir im regelmäßigen Austausch und Cassandra lud mich zu sich in die USA ein. 2019 habe ich diese Einladung endlich in die Realität umgesetzt.
Die Hände, die das mittlere Auge umfassen, zeichnen wir gemeinsam. Während ich mich etwas abmühe mit meiner Handzeichnung, zaubert Cassandra eine grazile Hand zu Papier.
Ihre Finger-, Hand- und Fußzeichnungen haben mich schon immer fasziniert. Damals als Cassandra bei mir übernachtete, schenkte sie mir einige laminierte Finger-Prints. Ich steckte sie in Blumentöpfe. Sie schauen seitdem aus den Töpfen zwischen den Pflanzen empor. Es scheint, die Finger kommen direkt aus der Erde. Dieser Faible für Finger, Hände und Knochen spiegelt sich auch in Cassandra Webseiten-Namen wider: https://artcassandraelaine.carbonmade.com
Auch gibt es mehrere Arbeiten, in denen sich Cassandra Dixon damit auseinandersetzt.
Wir sind fast fertig. Hier zeichnen wir noch eine Haarlocke und dort auch noch eine. Schließlich nehmen wir schwarze, dickflüssige Acryl-Farbe und ziehen die Linien nach. Nun kommt die Frau, die das offene Auge in den Händen hält, aus dem Papier heraus und schaut die*den Betrachter*in mit wachem Blick fragend an und hält doch gleichzeitig Antworten bereit.
Weitere Hände kommen aus den Wolken, spielen mit den Locken, halten sie fest. Eine andere Hand schirmt einen Blitz ab. Zwei weitere Augen tauchen in den Wolken auf. Noch sind sie verschlossen. Was werden sie sehen, wenn sie sich öffnen? Was wird der*die Betrachter*in sehen, wenn er*sie in diese blickt?
Hier und da fügen wir mit dem Schwarz an den Pinseln noch eine weitere Locke hinzu.
Schließlich sind wir fertig und schauen zufrieden auf unser Werk. Vielleicht werden wir in ein paar Tagen noch Farbe hinzufügen oder mit Collage-Technik weiter am gemeinsamen Bild arbeiten. Vielleicht werden wir damit noch performativ in Aktion gehen. Vielleicht. Doch erst einmal pausieren wir, essen eine Kleinigkeit und schließlich fahren wir nach Denver, in die Innenstadt. Cassandra fährt zu ihrem Brotjob und ich schaue mich derweil in Denver um.
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