Mit einem Blick auf das eigene fotografische Arbeiten wird ein Blick auf das künstlerische Schaffen deutscher Fotograf*innen gewagt.
Ich stehe an der Haltestelle Potsdamer Platz und warte auf die Einfahrt der U2. Mir gegenüber prangen in großen Lettern der Name der Station. Vor mir – auf Brusthöhe – halte ich mein Smartphone. Die Foto-App geöffnet – die Einstellung steht auf Quadrat. Der Zug kommt. Ich löse den Auslöser – einmal, zweimal. Später, in der U-Bahn öffne ich eine Fotobearbeitungs-App und verblende die beiden Aufnahmen miteinander – in der ersten Ebene Aufnahme Nr. eins – die Station mit dem Namen der Haltestelle. Darüber lege ich das zweite Bild – der einfahrende Zug, in Bewegung aufgenommen. Nun noch den Speicherknopf drücken und fertig. Ein weiteres Bild meiner Fotoserie »Lost in the City« ist entstanden.
Dieses Projekt existiert seit 2016 und dehnt sich mittlerweile auch auf andere Städte aus. Begonnen hat es einst während ich im Februar 2016 die Berlinale besuchte und somit zwischen Unterkunft und den Veranstaltungsorten mit U- und S-Bahn hin- und herfuhr.
Serielles Arbeiten fasziniert seit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert Fotokünstler*innen immer wieder erneut und ist ein beliebtes Mittel, sich künstlerisch auszudrücken. Ermöglicht dies doch, dadurch Zeit und Raum zu überwinden, Zusammenhänge und Gegensätze sichtbar zu machen. Jedes Bild kann für sich allein stehen, doch durch das Nebeneinanderstellen ergibt sich eine neue Erzähl- und Deutungsweise. Manchmal sind es Fotografien, die als Paar oder kleine Gruppe gezeigt werden, andere werden als Bildfolge oder als Reihe zusammengefügt. Mitunter entstehen ganze Folgen, Reihen, gar Zyklen, die sich über Jahre und Jahrzehnte erstrecken.
In der kürzlich in der Akademie der Künste gezeigten Ausstellung über Helga Paris wurde ein Querschnitt des künstlerischen Schaffens der Fotografin präsentiert, darunter ihre bekannten Portraitserien über die Näherinnen der VEB Treffmodelle, Ostberliner Punks, Müllarbeiter*innen oder auch über die Kneipenszene in Ostberlin. Ihre Arbeiten sind ein Zeitdokument, wie ihre Reihe über den Zerfall des historischen Stadtkerns Halles Mitte der 1980er-Jahre eindrucksvoll zeigt. Hier ist sie ganz bewusst über zwei Jahre mit dem Trabant von Berlin in die Stadt an der Saale gereist. Die Serie nennt sie „Häuser und Gesichter“: Sie porträtierte neben den vom Einsturz bedrohten Bauwerken die Menschen, die zu diesem Zeitpunkt in dieser Stadt lebten.
Damals durfte diese Serie nicht gezeigt werden – aufgrund der negativen Deutungsmöglichkeit. Aus heutiger Sicht sind die Aufnahmen ein Schatz, denn es ist für Viele heut nicht mehr vorstellbar, wie es um viele ostdeutsche Städte in dieser Zeit bestellt war, erlebten doch viele dieser Straßenzüge glücklicherweise mehr als nur einen neuen Anstrich.
Auf arte läuft hierzu ein Kurzbeitrag der Journalistin Sandra Luzina von 2019.
Während ich – damals im Februar 2016 an einer dieser Haltestellen auf meine Bahn zum Kinosaal wartete, kam mir die Idee zur Fotoserie »Lost in the City«.
Jede Haltestelle hat ihr eigenen Design, manchmal unterscheiden sich bereits die einzelnen Bahnsteige voneinander. Dazu kommen die Spiegelungen in den Scheiben der einfahrenden Züge. Menschen sitzen, stehen darin, sind auf den Weg irgendwo hin oder kommen irgendwoher. Sie sind mit sich selbst beschäftigt, schauen auf ihr Smartphone, manche in ein Buch. Andere unterhalten sich und einige reden auf ihr Kind ein.
Die aktuelle Fotografie-Ausstellung „Moderne.Ikonografie.Fotografie – Das Bauhaus und die Folgen 1919 – 2019“ im Kunstmuseum Kloster unser Lieben Frauen in Magdeburg (noch bis zum 9. Februar 2020) präsentiert eine Vielzahl serieller Arbeiten – aus der Zeit des Bauhauses und ihrer Auswirkungen auf das heutige Sehen in der Fotografie. Zu sehen sind experimentelle Fotografien von Marianne Brandt – Selbstportraits durch reflektierende Objekte, welche ihren Körper verformen und sie beispielsweise aus einer Froschperspektive zeigen oder doppelt wiedergeben. Sie sah genau hin, sah was passierte, wenn sie durch die Kameralinse auf sich selbst schaute.
Auch ich sehe mich in der Reflexion der Scheiben des einfahrenden Zuges. Sehe mich standhaft – beide Beine fest auf dem Boden verhaftet, während alles um mich herum in Bewegung ist. Den Blick nach vorn gerichtet – gerade aus, den Auslöser gedrückt bevor der Zug in der Station hielt und mein Spiegelbild verschwindet, die Türen sich öffnen und ich eins werde mit der ein- und ausströmenden Menschenmenge.
Sophia Kesting ist mit ihrer Arbeit „White City – Black City“ auch in der Ausstellung »Moderne.Ikonografie.Fotografie« des Kunstmuseums – als Repräsentantin der Gegenwart – zu sehen. Die ca. 1000 Fotografien zeigen Bauten im Bauhaus- und Internationalen Stil – aufgenommen in Tel Aviv. Sie fokussierte sich bei ihren Aufnahmen nicht allein auf die unter Denkmalschutz stehenden Häuser, sondern erarbeitete ihren eigenen, subjektiven Denkmalkatalog, welche um zeitgenössische Bauten, die Merkmale des Internationalen Stils aufgreifen, miteinschließt. Jedes Motiv befindet auf einer der drei Europaletten als Plakatausdruck im Stapel aufgeschichtet. Die Besucher*innen sind eingeladen, sich ein Plakat mitzunehmen. So generiert sich im Verlauf des Ausstellungszeitraums die Motivkombination immer wieder neu und die weiße City verlässt das Kunstmuseum und zieht ein in die privaten Räume.
Meine Serie „Lost in the City“ präsentierte ich im letzten Jahr im Rahmen der „Living Room Gallery“. Auch hier konnten die Besucher*innen die ausgestellten Werke gegen eine Spende mitnehmen. Die Spenden-Einnahmen flossen in WASH Projekte von Viva con Agua de Sankt Pauli e. V.
So vereinzelt sich auch meine Serie wieder in ein universelles Bild.
© Kiraton
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