KUNST/MITTE Notes

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Von Schwestern und Brüdern

06.11.2019, Matthias Moseke
89 | 90  © Matthias Moseke
89 | 90 © Matthias Moseke

Zugegeben, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution ist mein Wissen über die Kunst in der DDR immer noch ziemlich begrenzt. Die Klischees vom sozialistischen Realismus und der sogenannten Staatskunst sind nach wie vor wirksam, erweitert um die Kenntnis von künstlerischem Untergrund und riskantem Nonkonformismus einiger weniger.

Was ist mit den vielen Kunstschaffenden, die trotz staatlicher Vorgaben, Überwachung und Repressionen in dem autoritären System gelebt, gearbeitet und ihre künstlerischen Positionen entwickelt haben?
Kaum etwas spiegelt die Stimmung und Befindlichkeit einer Gesellschaft besser wider als die bildende Kunst ihrer Zeit, die nicht zuletzt bei der Annäherung beider deutschen Gesellschaftssysteme von erheblicher Bedeutung ist.
Aus meinem westdeutschen Blickwinkel gesehen klaffen diesbezüglich große Lücken in der Aufarbeitung und Wahrnehmung von Kunst aus der DDR.

In einem aktuellen Interview des MdbK Leipzig empört sich Cornelia Schleime zu Recht, dass in „sämtlichen großen westdeutschen Gruppenausstellungen der vergangenen dreißig Jahre kein DDR-Künstler gezeigt wurde“, egal ob es sich um eine Porträt-Ausstellung handelte oder Schwarz-Weiß als Sujet thematisiert wurde.

Wirklich bewusst wurde mir dieses Defizit durch eine bemerkenswerte Begegnung kürzlich in Leipzig.
Begegnet sind mir in der Galerie Irrgang Bilder die mich bewegt, beeindruckt, erreicht haben. Einer zunächst eigentümlichen Vertrautheit folgte Irritation. Wer malt denn heute in dieser Weise? Technisch versiert, vielschichtig, markant, intensiv, irgendwie old-school.
Im Gespräch mit dem Galeristen klären sich meine Fragezeichen.
Die teilweise erstmalig gezeigten Werke der Leipziger Künstlerin Doris Ziegler entstanden Mitte der 1980er bis 90er Jahre. Ziegler, die von 1969-74 bei Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer studierte, lässt in ihrer Malerei die Atmosphäre dieser Zeit in einer Gesellschaft unter Verschluss fühlbar werden. Viel zu lange blieben ihre Werke im Schatten eines allgemeinen Desinteresses an der Kunst dieses Landes.

Werke Doris Zieglers im MdbK aus der Serie „Übergangsgesellschaft“ (1993/94)

Wenige Wochen später, im Museum der bildenden Künste Leipzig, betrachte ich wieder Arbeiten der Malerin und etwa dreihundert weitere Werke ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung Point of No Return (27.7. – 3.11.2019).
Mit dem Fokus auf die Zeit des politischen Umbruchs vor dem Fall der innerdeutschen Grenze und einer „Übergangsgesellschaft“, wie eine Werkreihe Zieglers der frühen 1990er Jahre betitelt ist, wird ein Spektrum von über hundert künstlerischen Positionen auf Augenhöhe kuratiert. Doris Ziegler sagt in einem Interview: „…Was gut ist, ist, dass diese Ausstellung uns aus unseren Schubladen befreit. Wir sind ja irgendwie in die Schublade ‚DDR-Kunst‘ gesteckt worden, und auch immer noch drin, ja, bei aller Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit …“   

Insgesamt ebnet diese Ausstellung den Weg hin zu einer überfälligen, in die Tiefe gehenden Auseinandersetzung. Beispielsweise fällt auf, dass die mangelnde Sichtbarkeit vor allem von Künstlerinnen und ihre, entgegen staatlich propagierter Gleichstellung, reale Benachteiligung im sozialistischen (Kunst-) System, auch nach drei Jahrzehnten kaum überwunden ist – nur knapp ein Fünftel der Ausgestellten in Point of No Return sind Frauen. Und im Kunstarchiv Beeskow, einer öffentlich zugänglichen Dokumentationsstelle zur Bildenden Kunst in der DDR, beträgt der Anteil von Künstlerinnen im Malereibestand lediglich ein Zehntel.

Eine umfassende Betrachtung des künstlerischen Erbes der DDR hat gerade erst begonnen und könnte die vielzitierte Mauer in unseren Köpfen weiter bröckeln lassen.

Hier noch einige Links zum Thema:

„Point of No Return“ Museum der bildenden Künste  
Kunstarchiv Beeskow
Die Interwiews:
MdbK Talk 1 Doris Ziegler
MdbK Talk 2 Cornelia Schleime
„Utopie und Untergang“ Kunstpalast Düsseldorf / Kritisches Interview zur Ausstellung – Carsten Probst zur DDR-Kunst-Ausstellung in Düsseldorf 
„Zeitenwende“ Stiftung Kunstforum der Berliner Volksbank
„Künstler aus der DDR“ Museum Barberini bis 2. Februar 2020  
„Das Archiv Stötzer“ gfzk Leipzig
Galerie Irrgang Leipzig
Doris Ziegler Internetseite 

Beitrag: Matthias Moseke, DAS PRINZIP KUNST


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