KUNST/MITTE Notes

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Das Kino braucht eine Leinwand – die 9. Filmkunsttage Sachsen-Anhalt.

25.10.2019, Kirsten Mengewein

Impressionen.

Eröffnung

Dienstag. Ein lauer Abend Mitte Oktober in der Magdeburger Neustadt. Es dämmert bereits und vor dem Studiokino wächst eine Menschentraube an. Kamerablitzen. In der Menge – dem großen Kameraobjektiv folgend – steht Tom Schilling. Die Tür zum Kino öffnet sich und offenbart eine lange Schlange am Ticketschalter. „Wer für heut nicht reserviert hat oder auf der Gästeliste steht, kommt nicht mehr rein!“ Gemeint ist der Eröffnungsfilm der 9. Filmkunsttage Sachsen-Anhalt „Lara“ mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle, Tom Schilling spielt ihren Sohn.

Noch im Foyer trifft man sich – die Wiedersehensfreude ist groß und gespannt auf den Film sei man auch. Es wird geplaudert und manch eine*r steht noch für einen Wein oder Softgetränk an. Doch so langsam strömen die Menschen von der Straße über das Foyer in den Kinosaal. Am Ende ist jeder Platz besetzt – Tom Schilling und seine Frau nehmen auf den Stufen Platz, damit auch der letzte Platz an das interessierte Publikum vergeben werden kann. Dann ein Gong, es wird dunkel und der Vorhang öffnet sich – der Trailer der Filmkunsttage – „F – 1 Festival, 10 Spielstätten, 40 Filme“ – brennt sich auf der Leinwand ein.

Festivaleröffnung mit Jenny Langner,  Miriam Bliese, Frank Salender,  Ricardo Brunn,  Jonas Schmager und Alexander Masche  © Kiraton
Festivaleröffnung mit Jenny Langner, Miriam Bliese, Frank Salender, Ricardo Brunn, Jonas Schmager und Alexander Masche © Kiraton

Im Anschluss holt die Moderatorin Jenny Langner Frank Salender, Leiter des Festivals und Alexander Masche, Leitung der Programm-Kuration, auf die Bühne und sie eröffnen gemeinsam das Festival. In einem kleinen Ausblick auf das Programm erzählt Masche, er habe für die diesjährige Filmauswahl viele Festivals besucht, Filmbeiträge gesehen und viel recherchiert. Kriterien waren für ihn stets „Inhalt, Drehbuch, Figuren, was wurde so noch nicht erzählt und was davon funktioniert für das Kino“. Ein besonderen Fokus bei der Auslese der Beiträge lag hierbei auch auf der Region Mitteldeutschland. So verdichtete sich das Programm schließlich auf die Themenfelder Kapitalismus(-kritik), Coming-out-of-age, Sexualität und Identität und immer wieder auf das Thema Familie – als die kleinste soziale Zelle.

Studiokino-Saal Filmkunsttage Sachsen-Anhalt 2019 © Kiraton

Doch nun zunächst: noch einmal im Kinosessel zurechtrücken und tiefer hineinsinken, ein letztes Räuspern, Vorhang auf und Film ab!

Lara Jenkin erwacht allein an ihrem 60. Geburtstag in ihrer Wohnung – doch viel Freude gibt es nicht, nur einen Tee und eine Zigarette zum Frühstück. Ihren Sohn Viktor erreicht sie telefonisch nicht, auch der Brief an ihn scheint ihr nicht zu gelingen. Schließlich zieht sie los, kauft alle restlichen Karten für sein erstes Solo-Klavier-Konzert – denn eingeladen hat sie ihr Sohn nicht – und verschenkt sie an Menschen, die sie auf ihrem Streifzug durch Berlin trifft. Schließlich begegnet sie – schon lange immanent anwesend – ihrem Sohn – eine schmerzliche Situation für beide Seiten, denn der destruktiven Lara gelingt es nicht, ihrem Sohn in den letzten Stunden vor seinem Auftritt Mut zuzusprechen.

Der Abspann ist gelaufen, das Licht geht erneut im Saal an und das Publikum applaudiert begeistert dem zweiten Langfilm von Jan Ole Gerster und Tom Schilling, der auch beim zweiten Film des Regisseurs dabei sein darf, betritt die Bühne. Die Moderatorin Jenny Langner und er kommen ins Gespräch und tauschen sich über seine Figur Viktor aus.

Eröffnung Filmkunsttage: Jenny Langner befragt Tom Schilling © Kiraton
Eröffnung Filmkunsttage: Jenny Langner befragt Tom Schilling © Kiraton

Schilling, selbst Musiker, konnte sich sehr gut in den Kosmos der Figur des jungen Komponisten und Klavierspielers einfühlen. Er schrieb sogar die aufgeführte Komposition. Vor der Kamera geht es für Schilling nur um Fühlen, denn die Kamera – anderes als auf einer Theaterbühne sieht alles – bis in die Seele hinein. Und darum braucht es die Kinoleinwand, damit der*die Zuschauer*in genau dies später sehen und erfahren kann. Und dies gelingt den Schauspieler*innen, der Kamera und dem Regisseur. Das Publikum fühlt sich in Lara ein und entwickelt Sympathie mit ihr, auch wenn sie sich und ihrer Umwelt immer Schmerz zufügt. So kann es auch verstehen, warum Viktor, Laras Sohn, so zerrissen ist und seinen Selbstwert durch Anerkennung von außen nimmt.

Erneuter Applaus. Langsam begibt sich das Publikum zum Ausgang, versammelt sich im Foyer oder mit einer Zigarette direkt vor dem Kino in lockeren Grüppchen und bespricht den Film und resümiert die Eröffnung der 9. Filmkunsttage. Hier und da wabern Satzfetzen empor: „Eine gelungene Eröffnung.“, „Der ausgewählte Eröffnungsfilm passte ganz wunderbar.“, „Die Harfouch hat mal wieder großartig gespielt.“, „Die Moderation und das ganze Ambiente – wieder einmal sehr stimmig.“, „Danke, den Film habt ihr sehr gut ausgewählt.“

Die Jury, bestehend aus Miriam Bliese (Regisseurin), Jonas Schmager (Kameramann) und Ricardo Brunn (filmgazette.de), zieht sich zurück und berät sich zum ersten Film. Jede*r mit ihrem*seinen eigenen Fokus. Am Ende werden sie die Dokumentation „Höhenflüge“ von Lena Leonhardt in der Kategorie Langfilm mit dem 5.000 Euro dotierten Hauptpreis auszeichnen. Doch bis zum Sonntag werden sie noch acht weitere Langfilme sehen und bewerten. Daneben wird auch das Publikum gefragt sein und einem der zehn gezeigten Kurzfilme ihre Stimme geben. „Drübenland“ von Arne Kohlwehner wird am Ende das Rennen machen.

Zwischenspiel

Szenenwechsel – drei Tage später. Im Studioclub wummern die Boxen und die bekannten und unbekannten OST-Songs wabern durch den unsaniert anmutenden, doch mit Kinobestuhlung, mehreren Sitzecken, Bar und kleiner Tanzfläche ausgestatten Raum. Und nein, OST meint nicht Ostmusik, sondern OriginalSoundTrack. Hier und da tanzen Einzelne zu „Lady Marmelade“ von Christina Aguilera, Pink, Mya und Lil’Kim und dort kreuzt eine Person einen Song auf dem OST-Bingo-Zettel ab.

Eine halbe Stunde zuvor lief der Abspann des österreichischen Filmbeitrages „Nevrland“, bei dem der Regisseur Gregor Schmidinger in seinem Langfilmdebüt einen tiefen Einblick in (s)eine menschliche Seele gewährte und die Kinobesucher*innen mitnahm auf einen von Angststörungen geprägten Trip mit Post-Gay-Perspektive und diese dabei tief in den Kinosessel drückte. Der Regisseur und sein Hauptdarsteller, der junge Österreicher Simon Frühwirth standen im Anschluss zum Nachgespräch auf der Bühne und Frühwirth wurde mit dem Nachwuchspreis der Filmkunsttage ausgezeichnet.

Frank Salender, Gesa Jäger, Simon Frühwirth und Gregor Schmidinger  © Kiraton 2019
Frank Salender, Gesa Jäger, Simon Frühwirth und Gregor Schmidinger © Kiraton 2019

Doch nicht nur er durfte sich über eine Auszeichnung freuen. Auch die Filmeditorin Gesa Jäger („Another Reality“, „Tiger Girl“, „Love Steaks“) wurde bedacht und das für „das sonst oft so unsichtbare Gewerk des Schnitts“.

All sie bewegen sich nun mit dem Party-Publikum zur Musik und schwatzen gelöst. Und dann läuft wieder ein bekannter Movie-Song und irgendwer streicht auf dem Bingozettel diesen an. Es fehlen noch drei weitere.

Nachhall

„Nunmehr im neunten Jahr stellt sich gewisse Festivalroutine ein“, meint Frank Salender mit drei Tagen Abstand zum Festivalgeschehen. „Die Gäste – sei es Alexandra Maria Lara, die wir am Donnerstag in Salzwedel mit dem Ehrenpreis auszeichneten, Tom Schilling zur Eröffnung, die Jury, die Regisseurin Lena Leonhardt („Höhenflüge“) etc. – waren begeistert von der Atmosphäre, den Spielstätten und Orten. Grandios war auch, dass wir am Sonntag mit „Aquarela“ eine Deutschlandpremiere feiern durften. Das Festival ist mittlerweile etabliert und wächst langsam und stetig – qualitativ wie quantitativ.“

Festivaleröffnung: Frank Salender, Jenny Langner, Tom Schilling und Alexander Masche 2019 © Kiraton

Salender ist davon überzeugt, dass Filmfestivals wie die Filmkunsttage einen Gegenentwurf zum Kino als Freizeitvergnügen – was durchaus seine Berechtigung hat – liefern. „Denn der Film schafft es, dich in Welten sehen zu lassen, die dein Leben beeinflussen und gleichzeitig tief in deine Seele blicken lässt“, so Salender weiter. Bei der Auswahl der Filme wird stets darauf geachtet, dass sie eine aktuelle Relevanz haben, künstlerisch ästhetisch sind und möglichst einen Bezug zur Region herstellen – wie der im Rahmen des Festivals gezeigte, aktuelle Film von Alexandra Maria Lara „Und der Zukunft zugewandt“. Und dass das Festival mittlerweile zur festen Größe im Sachsen-Anhaltinischen Herbst geworden ist, zeigt sich an den von Jahr zu Jahr wachsenden Besucher*innenzahlen.
„Im nächsten Jahr etwas anders machen? Vielleicht noch einmal genauer schauen, welcher Film eher in einer 17:00-Uhr-Vorstellung funktioniert und welcher in der 19:30-Uhr-Vorführung.“

9. Filmkunsttage Sachsen-Anhalt vom 15. bis 20. Oktober

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