KUNST/MITTE Notes

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Hello World: Revision einer Sammlung

18.05.2018, Dorothea Hertel

Das Aufbrechen des westlichen Kanons in ganz großem Stil: Das Museum Hamburger Bahnhof in Berlin zeigt die Revision ihrer Sammlung mit dem Ausstellungstitel „Hello World“

Von verschiedenen Seiten und mittels vielstimmiger, aktueller kuratorischer Praxis befragt die neueröffnete Ausstellung im Hamburger Bahnhof die bisherige eurozentristische, westlich kanonisierte Sammlung der Nationalgalerie. Vor allem geht es darum, ihre Leerstellen aufzudecken. Ein Blickwinkel konzentriert sich zum Beispiel explizit auf die Verbindungenvon Künstlern aus jeweils sehr entfernten kulturellen Kontexten und stellt fest, dass in unserer Welt immer nur der westliche Part eines gemeinsamen Schaffens ins Licht gerückt wurde. So hatte Joseph Beuys seit den 1970er Jahren engen Kontakt mit dem argentinischen, ebenfalls umweltpolitisch aktiven Nicolás Garcia Uriburu. 1981 bspw. stellten sie gemeinsam „Rhein water polluted“ (Flaschen mit gefärbtem Rheinwasser) aus. Ein Jahr später folgte Uriburu Beuys‘ Einladung, ihn auf der documenta mit den „7000 Eichen“ zu unterstützen. Dessen Mitwirken in Kassel führte jedoch nicht dazu, dass er auf der Künstlerliste erschien.
Solch wenig bekannte, sich bereichernde Netzwerke zwischen Künstlern in verschiedenen Teilen der Welt aufzudecken, sei es der Austausch zwischen Beuys und Uriburu oder der nachhaltige Einfluss des deutschen Malers Walter Spies auf die zeitgenössische balinesische Kunst und wechselwirksam seine Vermittlungsarbeit in den Westen—Charlie Chaplin ließ sich von ihm über die Insel führen— ist wichtig.


Beuys: Das Kapital. Foto: J. M. Noritsch

Zwei Jahre lang hat das Team aus 13 Kuratoren¹ für die Ausstellung gearbeitet, indem es den bisherigen Sammlungskanon der Nationalgalerie kritisch untersucht hat. Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, welcher fünf Berliner Museen² angehören, bezeichnet es als „Pflicht, in diesen sich verändernden Zeiten“ künstlerische Bewegungen auf allen Kontinenten, von Asien bis Südamerika, zu repräsentieren. Die Retrospektive zur Sammlung (spätes 18. Jh. bis Gegenwartskunst) bringt acht interne Kuratoren mit fünf Gastkuratoren zusammen, deren Spezialgebiete afrikanische und osteuropäische Kunst sind. „Hello World“ zeigt mehr als 250 Künstlerinnen und Künstler (rd. 750 Werke plus Dokumente etc.) auf über 10.000 Quadratmetern und spiegelt erstmalig den durch Brüche gekennzeichneten Charakter der Sammlung wider.

In diesem Umfang³ und mit solcher Intensität hat es das noch nicht gegeben: Diese Ausstellung thematisiert damit nicht nur die Direktiveihrer eigenen Vergangenheit, sondern wirkt—hoffentlich—nachhaltig in das Denken aller Kunstinteressierten und Sammler. Wir befinden uns nicht nur in einer Zeit der Globalisierung und setzen uns in musealen Häusern oder privaten Sammlungen mit Digitalisierung und Archivarbeit auseinander, sondern immer häufiger tauchen Fragen zu Sinn und Strukturen auf. Mit teilweise depressiven Tendenzen werden Sammlungen befragt, ob sie sich finanziell gelohnt haben (wie viele Blue Chips?) oder inwieweit sie einer vermeintlichen, kunsthistorisch kanonisierten Vollständigkeit entsprechen. Wenn solche Prüfung zu stark kapitalistisch gedacht wird, geht die Leidenschaft des Sammelns verloren und noch viel mehr: Sinn und Wesen von Kunst(schaffen) allenthalben.


Ausstellungsansicht von Duane Hanson Werk: Policeman and Rioter. Foto: J. M. Noritsch

Die Konvolut-Schau ist ein hochkomplexes, unbedingt sehenswertes Projekt: Spannend sind die Erzählweisen der Kuratoren, die ganz vielfältige—der Sammlung bisher fehlende—Perspektiven eröffnen. Die 13 Kapitel der Ausstellung („Ein Paradies finden. Sehnsuchtsorte von Paul Gauguin bis Tita Salina“, „Menschenrechte des Auges. Ein Bilderatlas zur Sammlung Marx“, „Colomental. Die Gewalt der miteinander verbunden Geschichten“, „Kommunikation als globales Happening“ u.a.) verstehen es am Ende auch, Verbindungen zwischen den einzelnen Ausstellungsteilen resp. Kulturen und Zeiten zu ziehen. Auf ziemlich unprätentiöse Art gelingt es, historische Museumskonzeptionen wie das Modell des Weltmuseums ebenso zu integrieren wie alternative, zukunftsweisende Ausstellungspraktiken und ein hybrides Verständnis von Kunstproduktion. Sind die blinden Flecken in der Geschichtsschreibung entdeckt, wird sich gefragt: Wie kann der Umgang mit den Beständen künftig weiterentwickelt werden, um dem weltweiten künstlerischen Austausch gerecht zu werden? Da „Hello World“ keine Vorbilder hat, ist zu hoffen, dass viele genau diesen Ansatz aufnehmen und ihn zum roten Faden ihrer Sammlung oder einer Ausstellung machen. Wir brauchen mehr Provenienz- und Lebensforschung als Auktionen!

Die Ausstellung „Hello World“ läuft noch bis zum 26. August 2018.

¹ Entwickelt wurde die Ausstellung von Udo Kittelmann mit Sven Beckstette, Daniela Bystron, Jenny Dirksen, Anna-Catharina Gebbers, Gabriele Knapstein, Melanie Roumiguière und Nina Schallenberg für die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, sowie den Gastkuratorinnen und -kuratoren Zdenka Badovinac, Eugen Blume, Clémentine Deliss, Natasha Ginwala und Azu Nwagbogu.

² Die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin umfasst heute die Häuser der Alten Nationalgalerie, der Neuen Nationalgalerie (bis 2020 wegen Renovierungsarbeiten geschlossen), des Museum Berggruen, der Sammlung Scharf-Gerstenberg und des Hamburger Bahnhofs – Museum für Gegenwartskunst.

³ Die mehr als 200 Werke der Nationalgalerie wurden ergänzt durch rund 150 Leihgaben aus weiteren Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: aus dem Ethnologischen Museum, der Kunstbibliothek, dem Kupferstichkabinett, dem Museum für Asiatische Kunst, dem Zentralarchiv, der Zentralbibliothek,  und dem Ibero-Amerikanischen Institut. Hinzu kommen weitere 400 Kunstwerke, Dokumente und Zeitschriften aus nationalen und internationalen Sammlungen.

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