KUNST/MITTE Notes

Das Web-Magazin für Kunst und Kultur in Mitteldeutschland.

Die Wiederentdeckung der Avantgarde in Magdeburg

10.11.2017, Ivonne Woltersdorf

Seit 2005 reaktiviert das Forum Gestaltung die modernen Höhenflüge der Stadt und stiftet damit ein Stück kulturelle Identität.

Magdeburg fehlt es an Lieblichkeit, sagte neulich ein Architekt im Gespräch zu mir, als wir uns wieder einmal über den diffusen Charakter der Stadt unterhielten. Die disparate Vergangenheit, der man hier an jeder Ecke begegnet, bzw. in weiten Teilen nicht mehr, prägt die Stadt bis heute und versperrt bisweilen den Blick auf eine kulturhistorische Vielfalt—die ihr eigentlich ein ziemlich stabiles Fundament für eine dynamische Entwicklung liefern könnte.

Ein äußerst vitales Kapitel der Stadtgeschichte sind die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in der Magdeburg zur Modellstadt der Moderne avancierte. Schon 1919 verkündete der avantgardistische Architekt und Stadtplaner Bruno Taut in einem Aufruf zum farbigen Bauen, dass ein Frühlicht von Magdeburg seinen Lauf nehmen werde. Anzunehmen, dass er in der aufstrebenden Metropole, mit der er als einer der Architekten der Gartenstadt Reform bereits Bekanntschaft gemacht hatte, ein besonderes Potential sah, etwas Neues zu schaffen. Vor allem weil er in Magdeburg bereits zahlreiche Beispiele entschlossenen Neuanstrichs von Hausfassaden verzeichnen konnte, die auf sein Zuraten verwirklicht wurden.

Als er hier 1921 zum Stadtbaurat berufen wurde, fand er zudem den nötigen politischen Rückhalt, der es ihm ermöglichte, die virulenten reformerische Ideen jener Zeit in eine progressive Siedlungsarchitektur zu übersetzen. Vier Jahre bevor der Grundstein für das berühmte Neue Frankfurt gelegt wurde, enstanden in Magdeburg unter seiner Ägide moderne Wohnsiedlungen. Außerdem realisierte er gemeinsam mit seinem kreativen Abteilungsteam ein Programm zur bunten Bemalung von 100 Hausfassaden und setzte mit expressionistischer Farbgestaltung auf verschnörkelten Stuckfassaden in ihren als angstvoll empfundenen Brechtönen ein weiteres sichtbares Zeichen des neuen Bauwillens. Diese Versachlichung bürgerlicher Repräsentationskultur stieß freilich auch in Magdeburg auf Widerstand, der bis hin zu Morddrohungen reichte.

Dennoch fassten die lichten Gestaltungsansätze in Magdeburg Fuß und trugen zu einer Erweiterung des Stadtbildes bei, zu dessen Kulisse heute der gothische Dom ebenso gehört wie der 1926/1927 im Rahmen der Theater-Ausstellung erbaute Albinmüller-Turm in seiner schlichten Sachlichkeit.

Aber nicht nur im Hochbauamt der Stadt verließ man den überkommenen Weg der tradierten Form des schön Verzierten, sondern auch an der Magdeburger Kunstgewerbe- und Handwerkerschule. Bereits mit Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat die 1793 gegründete Schule eine funktional motivierte Formensprache und machte sich als Führerin im modernen Kunstgewerbe über die Grenzen der Stadt hinaus einen Namen. Als 1925 der von Bruno Taut geschätzte Gebrauchsgrafiker Wilhelm Deffke zum Direktor berufen wurde, fanden technisch und ökonomisch durchdrungene Gestaltungsansätze einen konsequenten Widerhall im Lehrplan der Schule. Mit ihm kamen Persönlichkeiten wie der Schweizer Grafikdesigner Hermann Eidenbenz, der Konstruktivist Walter Dexel oder der Wiener Plakatkünstler Julius Klinger nach Magdeburg und förderten in den Fachbereichen Grafik, Werbung, Bau- und Ausbau sowie Bekleidung die experimentelle Beschäftigtigung mit Material, Maschine und Form. Ergebnis dieser Neuausrichtung: Weg von der Kunst, hin zu Technik und Handwerk. Das war u.a. eine wegweisende neue Logosprache und Reklamegestaltung.

Diese kühne, innovative und visionäre Phase der Stadtgeschichte stand 2005 Pate, als das Forum Gestaltung in der 1963 geschlossenen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule gegründet wurde. Seither belebt die als Verein organisierte Kulturinstitution mit einem winzigen Team um den Historiker Norbert Pohlmann dieses bedeutende Narrativ der Stadt und schließt damit eine kulturgeschichtliche Leerstelle, die Magdeburg so als Inspiration für die Zukunft begreifen kann.

Auf mehr als 80 Ausstellungen blickt das Forum Gestaltung seit seiner Gründung. Aktuell sind dort bis zum 10. Dezember unter dem Titel HIOB ICH KASSANDRA ICH CANDIDE Werke des Künstlers Rolf Kuhrt zu sehen. Einen umfassenden Überblick über das Wirken der Magdeburger Gestalter der 1920er- und 30er Jahre gab im vergangenen Jahr die vielbeachtete Ausstellung maramm Magdeburg–Reklame- und Ausstellungsstadt der Moderne, die im Rahmen des Ausstellungsprojekts Große Pläne! Moderne Typen, Fantasten und Erfinder der Stiftung Bauhaus Dessau stattfand. Für die Begleitpublikation erhielt das Forum Gestaltung 2017 den if design award.

Die kreative Aneignung der Stadtgeschichte, die am Forum Gestaltung oft mit spielerischer Leichtigkeit und immer mentalitätsgeschichtlich klug bewandert zu erleben ist, zeigt sich auch in dem hier entstandenen so kurzen wie prägnanten Animationsfilm Magdeburg auf dem Weg zur Kulturhauptstadt Europas, der die ambivalente Selbstwahrnehmung der Stadt mit dem doch recht beachtlichen Erbe konterkariert und damit ein spezifisches Moment von Magdeburg abbildet.

Mit Lesungen, Vorträgen zu kulturpolitischen Themen, Theateraufführungen sowie als Initiator der Veranstaltungsreihe Tage der jüdischen Kultur hat sich das Forum Gestaltung als Diskursraum in Magdeburg etabliert und schafft es, aufgrund eines weitreichenden Netzwerks seiner Macher auch heute wieder kreative Geister, Künstler und Intellektuelle nach Magdeburg zu holen.

Magdeburg fehlt es an Lieblichkeit, aber nicht an der Möglichkeit, aus dem was da ist etwas Neues zu machen, was es anderswo so noch nicht gibt.

Genau hingeschaut hat für Sie: Ivonne Woltersdorf.

PS: Abonnieren Sie unseren Newsletter, wenn wir Sie über Kunst und Kultur in Mitteldeutschland auf dem Laufenden halten sollen.

Newsletter

Hinweise auf neue Beiträge und unsere Kulturtipps erhalten Sie nur über unseren Newsletter: