KUNST/MITTE Notes

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Wüst-e Umbrüche, Ver-ort-ung in der Geschichte und der Gegenwart der Kunst

08.08.2017, Kirsten Mengewein

Ein Besuch der Neuen Neuen Galerie bei der documenta 14 und der dortigen Ausstellung des Fotografen Ulrich Wüst von Kirsten Mengewein.

documenta14: die Nummer 14 einer der weltweit bedeutendsten Reihen von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. In diesem Jahr beschritt das Kuratorenteam um den künstlerischen Leiter Adam Szymczyk unbekannte Wege und begab sich neben Kassel an einen weiteren Ort: Athen. Ein Blickwechsel sei nötig so Szymczyk. Ahnten sie vielleicht 2014 bei der Auswahl Athens schon, was 2015 in Europa passieren würde? Griechenland längst stigmatisiert durch eine bereits jahrelang andauernde Krise wurde nun erste Station vieler, einreisender Menschen auf ihrer Flucht von Syrien in die Festung Europas. Viele strandeten hier; neben denen durch die Finanzkrise(n) verarmten Menschen. Wiederum 2 Jahre später wurde sie auch der Beginn der documenta14.

Von Athen Lernen — so das Motto

Gemäß diesem Leitspruch wurde die Kunstschau—früher als sonst—zunächst am 8. April 2017 in Athen für 100 Tage eröffnet, bevor zu gewohnter Zeit schließlich die Kunstschau am 10. Juni 2017 auch in ihrem Geburtsort Kassel ihre Tore und Pforten öffnete. Somit dauert die Ausstellung nunmehr 163, statt wie bisher, 100 Tage. Aber nicht nur das: Auch in Kassel selbst suchte das Kuratorenteam neue Orte, wie beispielsweise die mittlerweile leer stehende Neue Hauptpost. Schön sieht sie nicht aus; von außen. Kerniger Beton-Brutalismus der 70er Jahre. Das 1975 als Hauptpost und Briefzentrum eingeweihte Gebäude ist reduziert auf das Wesentliche.

Zur documenta14 wurde es nun neu bespielt und mit neuer Bedeutung als Neue Neue Galerie wiedereröffnet.
Vorbei am Pförtnerhäuschen, hinüber zur großen Halle, hinter einem durchsichtigen Planen-Vorhang ist das Gebäude nun für 100 Tage Herberge für Malerei, Licht- und Video-Installationen, Fotografie, Tierschädel, rosa Plüsch und einiges mehr.
Der Ort ist bewusst gewählt für die hier ausgestellten Kunstwerke. Viele der Arbeiten werfen einen kritischen Blick auf die fortschreitende Geschichte der Menschheit. Es ist der Versuch einer Aufarbeitung. Von der Kolonialisierung Australiens bis hin zur aktuellen Mordserie des NSU; speziell des Mordes an Hallt Yozgat in Kassel. Gleichzeitig wird der Blick auf Menschen nach ihrer Migration in die Fremde gerichtet. Vertriebene und Gastarbeiter. Wie sie sich eine neue Heimat aufbauen.

Auch die Fotoserien des 1949 in Magdeburg geborenen Künstlers Ulrich Wüst haben hier Platz gefunden. An einem Ort, der ein schweigendes Zeugnis der fortschreitenden Digitalisierung ist. In einer Stadt, die 1955 bewusst als Schauplatz für die erste große Präsentation für zeitgenössische—einst entartete—deutsche Kunst gewählt wurde. Geografisch unweit der einstigen innerdeutschen Grenze: Einer Grenze zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Damals ging es um die Frage nach der künstlerischer Freiheit auf der einen Seite und den dringenden Versuch ein Kulturkollektiv zu etablieren auf der Anderen.

62 Jahre später und 27 Jahre nach dem Fall der Mauer ist zwar die Technik weiter voran geschritten—das ausgediente Briefzentrum braucht es nicht mehr—die Fragen nach kultureller Freiheit, nach Orientierung, nach Transformation, nach Werten aber bleibt. Dennoch schreitet gleichzeitig das (kulturkollektive) Vergessen voran. Gras wächst an der grünen Grenze, die Landschaften Ostdeutschlands blühen weiter. Da scheint die Chronik, die Wüst im Laufe der letzten 30 Jahre unter anderem von ostdeutschen Städten, der Morgenstraße in Magdeburg und der Gemeinde Nordwestuckermark geschaffen hat, wie ein Relikt aus längst vergessenen Zeiten. Dies unterstreichen auch die fein säuberlich gerahmten und gruppierten Silbergelatineabzüge an den Wänden des tunnelartigen Teilraums in der Neuen Neuen Galerie.
Auf den Bildern: Verwaiste ostdeutsche Stadtlandschaften vor und nach dem Fall der Mauer im satten Grau.
Stille. Kein Mensch ist zu sehen. Als Betrachter meinst du, beim Anschauen der Bilder, nur das leise Rauschen des Windes wahrzunehmen. Ein Blick auf Häuserfronten, auf abbröckelnden Putz, leerstehende Fabrikgelände, Felder, Strommasten, leere Straßen. In Ortschaften und dazwischen. Seine Bildsprache, die des einstigen Stadtplaners; unverkennbar.
Die Bilder strahlen eine fast hypnotische, beruhigte Ästhetik aus und ziehen die Betrachtenden in ihren Bann. Erst beim Beschreibungstext ein unwirkliches Blinzeln. Die Jahreszahl: Stadtansichten 1979-83, Morgenstraße, Magdeburg 1998-2000, Die Gemeinde Nordwestuckermark 2014-2016 (2015-). Welches Bild wurde erst vorgestern aufgenommen, welches schon vor Jahrzehnten? Es wirkt alles so unreal, aus einer anderen Zeit, vergessen.

Verklärung der Geschichte und doch passiert sie genau jetzt und hier. Wüsts Werke halten uns einen Spiegel vor: Genau betrachten sollen wir das, was vor uns ausgebreitet wird. Nicht ablenken lassen, durch die schöne, bunte Neonwelt des digitalen Zeitalters. Von allen Seiten betrachten, wahrnehmen, erinnern, die richtigen Schlüsse ziehen. Für das Jetzt und das Morgen. Dabei nicht verklären, nicht leugnen.

So schließt sich der Kreis. In der leer stehenden Neuen Hauptpost. Unweit der damals fast unüberwindbaren innerdeutschen Grenze. In diesem Land in der Mitte der Festung Europas.

Die documenta14, und die Ausstellung von Ulrich Wüst in der Neuen Neuen Galerie, läuft noch bis zum 17. September 2017.

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